Kulturen erleben. Menschen begegnen. Heiliges Land: Studienfahrt nach Israel

Augenschmaus und Mauern: ein Grenzgang?

Die ThiF-Studienreise 2018 durch Israel und Palästina

Unterwegs. Wann haben Sie sich das letzte Mal auf den Weg gemacht? Unterwegs im Land der Bibel. Pilgern? Da gehen die Meinungen weit auseinander!

Wir aber haben uns am 24.02.2018 auf den Weg gemacht. Wir? 27 Menschen unterschiedlichster Herkunft, unterschiedlichster Dialekte, verstreut aus ganz Deutschland kommend und doch eint uns alle eins: unterwegs auf Jesu Spuren. Manchmal ist es der banale Wunsch, dass man genau dort – oder auch einen Meter daneben, wer weiß das schon? – seinen Fuß hinsetzen kann, wo Jesus es getan hat. Unvorstellbar? Ja, aber darum ein vielleicht umso intensiver erlebter Augenblick!

Ankommen am See Genezaret

Treffpunkt ist für alle das Abfluggate am Frankfurter Flughafen. Nach einem ruhigen Flug werden wir in Tel Aviv freundlich empfangen und nehmen unseren Bus in Beschlag: unser ständiger und unentbehrlicher Reisebegleiter für die kommenden elf prall gefüllten Studientage. Nach einer dreistündigen Fahrt beziehen wir im Kibbutz Ginnosar für die ersten vier Nächte unser Quartier. Die überreiche Fülle des Abendbuffets raubt uns allen dann sogleich den Atem. Essen in Unmengen und immer ist noch alles da. Nie leere Töpfe und Schüsseln. Später auf unserer Reise haben wir das doch noch in Frage gestellt. Betlehem wird einiges in einem anderen Licht erscheinen lassen.

So wie Rituale in der Familie oder für den einzelnen Menschen wichtig sind, so finden auch wir in der Gruppe unsere Rituale. Wir beginnen jeden Morgen gemeinsam mit einem Morgengebet und enden abends mit einem Abendgebet plus Gesprächsrunde. Abends sind es oft die Augenblicke des Tages, die den einen oder die andere bewegt haben und erzählen lassen. Für uns andere ist es immer wieder interessant, wie verschieden und vielfältig die Eindrücke sind.

Augenblicke am See Genezaret

Die ersten Tage sind wir am nördlichen und nordwestlichen Ufer des Sees Genezaret unterwegs. Der herrlich ruhige See frühmorgens in Kafarnaum, die einsame Wanderung zum Berg der Seligpreisungen, das stille Fleckchen Erde am Ufer des Sees in Tabgha: Immer wieder gelingt es unserem Reiseleiter Herrn Kempin, uns fernab von Trubel und Massentourismus an biblische Orte zu führen. Ebenso lassen viele Gespräche mit Herrn Ostermann am Rande den Blick auf das Gehörte und Gesehene überdenken.

Etwas verwundert über Herrn Kempins Ausspruch, die Stadt mache erst um 8 Uhr auf, überlassen wir uns am zweiten Tag ganz seiner Führung. Und so stehen wir um 7:45 Uhr in Kafarnaum zum ersten Mal in Jesu Fußspuren. Es ist für den einen oder die andere sehr bewegend. Die Überreste der ehemaligen Synagoge lassen nur ein bisschen von dem Ort erahnen, an dem Jesus einst gelehrt hat (vgl. Mk 1,21). Ein Ritual, dass unbewusst sofort durch die gesamte Gruppe getragen wird, ist das gemeinsame Singen in Kirchen oder anderen steinernen Zeitzeugen. So auch in der Synagoge von Kafarnaum: „Alle meine Quellen entspringen in Dir“. Ein schöner Start in eine sehr lehrreiche, intensive, immer wieder bewegende aber auch nachdenklich stimmende Studienreise. Und so gehen wir am ersten Tag auch gleich los. Keine weite Strecke, aber immerhin ein Stück durch die wundervolle, reiche Kornkammer Galiläas. Vorbei an roten Farbtupfern (Anemonen) und gelben Senfpflanzen. Was aus einem kleinen Körnchen Hoffnung alles werden kann!

Wie bereits den gesamten Morgen, so begleitet uns der Anblick des Sees auch am Nachmittag. Bei einer Bootstour lauschen wir nochmals mit nun schon leicht veränderten Sinnen dem Matthäusevangelium und den Jüngern, die in den stürmischen Wellen des Lebens ins Hadern und Wanken geraten (vgl. Mk 4,35-41). Haben Sie das auch schon einmal erlebt? Wie wenig Gottvertrauen hat man manchmal! Und auch nach der Bootstour drehte sich für einen Teil der Gruppe nochmal alles um „das“ Boot: Ein Boot aus der Zeit Jesu im Museum am Kibbutz Ginnosar. Wem gehörte es? Wer war zu Jesu Lebzeiten damit unterwegs? Fragen, die unbeantwortet bleiben.

„Mache Dich also auf den Weg“ (vgl. Jos 1,1) – mit diesem Impuls im Gepäck führt uns unser dritter Tag im Gelobten Land nach Tabga. Keine 8 km vom Hotel entfernt, aber doch genügend Zeit, um unserem ersten Geburtstagskind der Reise ein Ständchen zu singen. In Tabga feiern wir anschließend gemeinsam mit den Benediktinern Eucharistie. Vor dem Altar befindet sich ein Bodenmosaik, das aus der Zeit vor der Zerstörung durch die Perser um 614 n. Chr. datiert. Dieses alte Mosaik stellt einen Korb mit vier Broten und zwei Fischen dar. Hmm, nur vier Brote? Sind es laut Bibel (vgl. Mk 6,38) nicht fünf? 

Nach so vielen Impulsen geht es für uns hinaus in die Natur und an die Quellen des Jordan: ins Naturschutzgebiet Tel Dan und nach Banias. So „starten“ auch wir unsere Reise vom nördlichsten Punkt. Von Cäsarea Philippi aus hat sich Jesus auf den Weg nach Jerusalem gemacht (vgl. Mk 8,27). Unser Weg führt aber erst einmal weiter zum Berg Bental im Golangebirge. Es ist ein eigenartiges Gefühl, auf den Golanhöhen zu stehen und nur gefühlte fünf Kilometer weiter die syrische Grenze zu sehen. Dort, wo Krieg und Hunger allgegenwärtig sind. Wir verfolgen neben den Erklärungen von Herrn Kempin eine Wachablösung der UN-Truppen und trinken dann gemeinsam im Coffee Annan einen heißen Tee, Kakao oder Kaffee. Wir denken alle an den berühmten Friedensnobelpreisträger Kofi Annan und sind beeindruckt, als wir vom schützenden Café nach draußen blicken und die Wolken sich über den Berg schieben. Das Café Wolke. Faszinierend!

Den vierten Tag beginnen wir mit einer Busfahrt zum Berg, der beiseite liegt: der Tabor-Berg oder der Berg der Verklärung (vgl. Mk 9,2-8). Der erste Impuls oben auf dem Berg befasst sich mit dem Propheten Elija. Derjenige, der seinen Auftrag maßlos übertreibt, verzweifelt, sich kaputt macht und erst dadurch das Unfassbare erfährt und Gott erkennt (vgl. 1 Kön 17-19). Nach ein wenig Zeit zum Innehalten und für das Bestaunen des Kirchenbaus führt unser Weg weiter nach Kanaa (vgl. Joh 2,1-12). Kein „Hochzeitsmahl“, aber ein Essen in Gemeinschaft und mit geteilter Freude erleben wir. Nächster Halt: Nazaret. Die orthodoxe Gabrielskirche und die lateinische Verkündigungskirche sind unsere heutigen Ziele. Gegensätzlicher könnten Sie nicht sein. Nach einem echten Nazarenischen Knafeh geht es weiter zu einer unscheinbaren Tür. Solche unscheinbaren Türen werden uns auf unserer weiteren Reise immer wieder in Verwunderung versetzen. Anklopfen. Eintreten. Ein Paradies der Ruhe. Wieder Gegensätze: eine laute, lärmende Stadt und plötzlich ein friedliches, stilles Fleckchen Erde. Wir befinden uns in der Ruheoase der Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu. Bruder Marco berichtet uns von Charles de Foucauld und wie dieser sich in Nazaret auf Jesu Spuren begab. Ganz einfache Berufe, füreinander da sein, sich gegenseitig helfen. Bruder Marco berührt unser Herz.

Aufbruch: Trauer vermischt mit Vorfreude

Der fünfte Tag bricht an und wir verlassen mit ein wenig Trauer im Herzen die Stille des Sees Genezaret. Wir haben das leichte Wiegen der Wellen in unsere Herzen geschlossen, aber die Neugier auf das Kommende ist dann doch stärker! Ein letzter Halt an der Primatskapelle. Wir halten uns die große Verantwortung des Petrus noch einmal vor Augen: „… und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen […] Weide meine Schafe.“ (Mt 16,18-19; Joh 21,17). Wir machen uns die Zartheit Jesu im Dialog mit Petrus bewusst: Zweimal die Frage: „Petrus, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?“ Und die Antwort: „Herr, du weißt, dass ich dir Freund bin“. Beim dritten Mal geht Jesus auf das Niveau des Petrus: „Petrus, Sohn des Johannes, bist du mir Freund?“ Jesus, der auf Petrus und dessen begrenzten Möglichkeiten die Kirche baut. Auch darin wird er uns Glaubensvorbild.

Über Magdala geht es weiter Richtung „Mauer/Grenze“. Schlagartig ändert sich die Landschaft. Wo vorher fruchtbare Wiesen das Bild beherrschten, beherrschen nun trockene, wüstenartige Landstriche das Bild. Der Boden wird immer ärmer und Landwirtschaft immer schwieriger. Wir erleben, auf trockenen Füßen im Bus, einen kräftigen Regenschauer und werden uns bewusst, dass wir uns fast in der Wüste befinden. Wasser ist hier rar.

Wir passieren einen Checkpoint und tauchen nun ein in die Westbank. Anders. Ja es ist anders. Das Gefühl ist zunächst schwer definierbar. Wir kommen an der Taufstelle in Qsar-al-Yahud an und sind unserem Busfahrer wie jeden Tag sehr dankbar: Die gesamte Woche über versorgt er uns zum Mittagessen mit Pitabrot, Hummus, allerlei weiteren Beilagen, einem Apfel oder etwas Süßem. Wir sind froh, dass K'fir nicht nur unser Busfahrer, sondern auch Teil der Gruppe ist! Die Taufstelle hinterlässt dann gemischte Gefühle bei uns. Ein russischer Pope, der leise Töne singt – seine Gruppe erneuert dabei im Jordan ihr Taufbekenntnis. Ein pakistanischer Geistlicher, der zwei Neutaufen vollzieht und die beiden Mädchen dabei rücklings auf ein Geländer im Wasser fallen lässt. Dieses Schauspiel hält uns so in Atem, dass wir sogar Herrn Kempins Worten nicht mehr folgen können. Dann werden wir uns der Grenzen gewahr. Zwei Stricke mit Bojen. Sie verlaufen einfach so durch den Jordan und hinterlassen dazwischen ein Niemandsland. Früher konnte das Volk Israel einfach durch den Jordan marschieren (vgl. Jos 3). Wir stoßen hier an Grenzen.

Unsere Fahrt geht weiter. Wir werfen einen ersten Blick auf Jerusalem und die goldene Kuppel des Felsendoms. Dann stockt uns der Atem! Wir halten an einem Checkpoint nach Betlehem. Soldaten. Personenkontrolle. Hat unser Busfahrer überhaupt das Recht, nach Betlehem zu fahren? Zu Hause macht man sich eigentlich keine Gedanken, ob man einfach so ins Nachbardorf fahren kann. Wir passieren den Posten und blicken auf ein Graffiti. Die weiße Friedenstaube mit Ölzweig im Mund. Sie trägt eine Schutzweste und das Visierkreuz eines Gewehres zielt genau auf ihr Herz. Schon wieder Mauern. Wir fahren weiter. Für die nächsten zwei Nächte finden wir Unterkunft im St. Vincent Guesthouse. Nach einem ersten Kurzbesuch in der Geburtskirche hat das zweite Geburtstagskind auf unserer Reise Glück. Die Gastgeber machen nach dem Hauptgang das Licht im Saal aus und ein gewaltiger Rührkuchen mit Wunderkerzen verfehlt seine Wirkung nicht! 

Zwischenstation: Betlehem

Der sechste Tag: Wir gehen nach einem guten Frühstück noch einmal zur Geburtskirche (vgl. Lk 2,1-21). Unser palästinensisch-christlicher Reiseführer Sami erklärt uns auf Englisch einige Details seiner Kirche. Denn wir befinden uns auf palästinensischem Gebiet. Und eigentlich gibt es keinen Unterschied. Er erklärt uns vieles ebenso wie Herr Kempin dies tut. Die Geburtsgrotte wirkt dann ganz unterschiedlich auf uns. Die eine spürte die Gegenwart Jesu, für den anderen war es wie im Gedränge einer Supermarktkassenschlange. Doch eines verdeutlicht uns Herr Kempin: Wir stehen in einer Sehnsuchtsschlange mit unendlich vielen anderen Menschen. Oft kommt es nur auf den Perspektivwechsel an. Wir verlassen Betlehem und machen uns auf Richtung Dahers Weinberg.

Hier lebt die christlich-palästinensische Familie Nassar. Seit über 100 Jahren gehören ihnen 42ha Ackerland. Sogar seit 1967 von den Israelis verbrieftes Land. Daoud Nassar macht uns deutlich, dass Dokumente in Palästina eigentlich nie wichtig waren. Eigentlich … Es galt der Handschlag. Sein Großvater hat sich den Kauf des Ackers aber beglaubigen lassen. Zu seinem Glück (oder Leidwesen?). Seit 27 Jahren ist dieses Stück Land Streitpunkt zwischen der Familie Nassar und dem Staate Israel. 1991 von der israelischen Militärbehörde zu israelischem Staatsgebiet erklärt, liegt es strategisch günstig auf einem Hügel. Es ist die letzte Seite, um die gegenüberliegende israelische Siedlung komplett zu schützen. Seit 27 Jahren ein Prozess, der vom Gericht auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Immer wieder Abriss- und Kultivierungsstoppbefehle, die die Familie und ihre Helfer mühevoll suchen müssen. Denn im Briefkasten landen diese nie! Irgendwo auf dem Gelände abgelegt, fotografisch dokumentiert, getreu dem Motto, man hat ihn „übergeben“. Wenn sie innerhalb von 45 Tagen rechtlich nicht dagegen vorgehen, sind sie bindend. Die Familie erträgt vieles: Straßensperrungen, kein Recht auf fließend Wasser und Strom. Kein Recht auf Hausbau. Unrechtmäßige Rodungen der Oliven oder Obstbäume kurz vor der Ernte. Ein Schaden, der nicht innerhalb kürzester Zeit reparabel ist.

Aber wir lernen von Daoud auch, dass für ihn nicht alle Israelis gleich sind. Die Gewalt von Militär oder israelischen Siedlern lasse viele Palästinenser mit Gegengewalt oder Resignation antworten. Daoud versucht es anders. Er und seine Familie haben Prinzipien entwickelt, die Hoffnung und den Glauben an ein gutes Ende schenken sollen: Wir weigern uns, Opfer zu sein. Wir weigern uns, zu hassen und Feinde zu sein. Wir üben gewaltlosen Widerstand. Wir reagieren anders. Wir sehen das Gute und begegnen dem Negativen mit dem Positiven. Auch er und seine Familie haben oft an das Aufhören gedacht. Aber was nützt ein Blankocheck, wenn man das Land seiner Väter (vgl. 1 Kön 21,1-29) verrät?

Nach diesen vielen Eindrücken kehren wir abends wieder in unser Hotel zurück und erleben gleich zwei Überraschungen: Im Zimmer angekommen schaut uns fröhlich eine Frühlingsblume entgegen. Zum Nachtisch gibt es "Kalten Hund". Ja richtig gelesen! Kalten Hund! Die Frage nach Fasten stellt sich nun nicht mehr. Danach gehen wir gestärkt und voll Dankbarkeit für so viele wunderbare Erfahrungen frühzeitig zu Bett.

Aufbruch: Wüste

Die ein oder andere Stunde mehr Schlaf sollte sich lohnen: Der siebte Tag beginnt für uns noch vor dem Sonnenaufgang. Wir sitzen um sechs Uhr alle ziemlich verschlafen im Bus und freuen uns, dass unser Morgengebet bis zur Ankunft in der Wüste warten kann! Und auf einmal liegt sie vor uns. Nie zuvor mit einer Silbe daran gedacht, aber wir werden durch eine Steinwüste laufen! Kein Sand. Keine Kamele. Dafür begleitet uns ein Beduine mit seinem Esel. In einer kleinen wasserreichen Oase machen wir Halt. Unser Impuls für die nächste Wegstrecke ist der Zweifel. Dieser bekommt in Num 21,4-9 das Bild der Schlange (vgl. Gen 3). Es geht also um den Zweifel, der den Menschen annagt, ihn vergiftet und Gottes Verheißung in Frage stellt. Blickrichtung ändern, aufschauen, vom Boden weg. Wie heißt mein Zweifel? Und gibt es Stimmen des Mutes, die mir Hoffnung verheißen?

Um uns herum immer ein grüner Flaum soweit das Auge reicht. So gefährlich und feindlich die Wüste sein kann, so freundlich und lebendig erleben wir sie. Noch haben wir Glück. Das zeitige Frühjahr und die Regengüsse der letzten Wochen haben die Wüste verwandelt. In wenigen Wochen wird es ganz anders aussehen. Dürre und Hitze werden sich verbreiten. Und so gehen wir weiter und erreichen zum Mittag das Georgskloster.

Nach der Durchquerung des Wadi und einem wildem Ritt auf Eseln den Berg hinauf ziehen wir weiter nach Qumran. Leicht müde versuchen wir den Ausführungen von Herrn Kempin zu folgen. Leider gelingt das nicht mehr jedem, obwohl der Fund von fast 2.000 Jahre alten Schriftrollen beeindruckend ist. Trotzdem: Das anschließende Ereignis wirft seine magische Anziehungskraft voraus! Ein Schlammbad im Toten Meer! An oder im Wasser – jeder ist fasziniert von der Magie der Natur. Als „Toter Mann“ oder „Tote Frau“ treiben wir auf der Wasseroberfläche dahin und fragen uns, ob Jesus hier auch gebadet hat.

Und nun ist es soweit: „In deinen Toren werd‘ ich stehen, du heilige Stadt Jersalem…“! Umwerfend! Wir erreichen bei fast Vollmond das Jaffa-Tor, verstauen unser Gepäck in einem kleinen Traktorgefährt für Koffertransport und laufen quer durch den Bazar zu unserer dritten und letzten Unterkunft, dem Lutheran Guesthouse. Zentral im Christlichen Viertel gelegen machen wir uns auf eine erste kleine Entdeckungsreise: Auf zur Westmauer! Das sagt Ihnen nichts? Vielleicht die deutsche Bezeichnung der „Klagemauer“. Der Begriff Klagemauer geht zurück auf die Briten, die diese Mauer wailing wall nannten, da sich das Gebet der Juden wie Klagen anhört und durch die vor- und rückwärts wippende Bewegung des Oberkörpers noch verstärkt wird. 

Ankommen und entdecken: Jerusalem

Nun ist es endlich an der Zeit, Jerusalem zu entdecken! Am achten Tag unserer Reise machen wir uns auf den Weg, die Nord-Süd-Achse zu erkunden: von der Davidstadt und dem Teich Schiloach in Richtung St. Anna-Kirche und Betesda-Teich (vgl. Joh 5,1-47). Und dies ohne Bus! K'fir hat heute seinen freien Tag. Und wir erkunden Jerusalem zu Fuß sowie mit einem arabischen Linienbus. Eine kurze, aber amüsante Fahrt. Und überhaupt nicht zu vergleichen mit deutscher Genauigkeit. Auf dieser Nord-Süd-Achse erzählt der Johannesevangelist die Heilungsgeschichten eines Lahmen (Betesdateich) und eines Blinden (Teich Shiloach), die mit Wasser zu tun haben und auf erstaunliche Weise mit der Eroberungsgeschichte von Jerusalem durch David in 2 Sam 5 verbunden sind, in der Lahme und Blinde eine wichtige Rolle spielen. Am Teich Schiloach macht uns Herr Kempin darauf aufmerksam, warum Jesus von den Pharisäern eigentlich angeklagt wurde (vgl. Joh 9,1-41). Er tut etwas am Sabbat mit seinen Händen (Behandlung)! Er heilt mit Spucke, Lehm und seinen Fingern einen Blinden oder er fordert einen Lahmen auf, seine Trage zu nehmen und nach Hause zu gehen.

Am Löwentor müssen wir gemeinsam mit einer gewaltigen Menschenmenge unseren Weg durch das schmale Tor bahnen. Die muslimischen Gläubigen sind auf dem Weg zum Mittagsgebet. Ein heilloses Gedränge. Und dann wieder: Eine unscheinbare Tür geht auf und eine Oase der Ruhe breitet sich vor uns aus. Wir stehen mitten in der St. Anna-Kirche. Zarte Töne einer Flöte: die Pfingst-Sequenz. Dann tönen wir mal lauter mal leiser das Laudate omnes gentes und sind gefangen von der Schönheit und Akustik dieser Kirche. Wie alles Schöne ein Ende hat, so verlassen wir diese Stille und werden wieder hinaus in das Getümmel der Via Dolorosa geworfen. Der Nachmittag ist frei; ob beim Bummel über den Bazar, das Erkunden weiterer Sehenswürdigkeiten oder aber eine verdiente Pause im Gästehaus – jeder verlebt den Nachmittag auf seine Art und Weise. Abends treffen wir uns alle im Speisesaal wieder und dürfen gemeinsam unserer Wurzeln gedenken. Wir Christen stammen aus dem Judentum und das Teilen von Brot und Wein ist am Sabbat elementar. So dürfen auch wir an diesem Freitagabend dank der jüdischen Wurzeln von Herrn Kempin den hebräischen Segenssprüchen für Brot und Wein lauschen und teilen die Gaben gemeinsam aus. Das ist die Grundlage unseres christlichen Abendmahles, die Jesus kannte und neu gedeutet hat. Den Abend lassen wir mit einem Besuch und vielen bewegenden und eindrücklichen Momenten an der Westmauer zum Purimfest enden.

Der neunte Tag beginnt wieder sehr früh für uns. Aber wir stellen dies nicht mehr in Frage. Die vergangenen Tage haben uns gezeigt, dass Herr Kempins profunde Kenntnis der Orte sich nicht nur in spirituellen Impulsen niederschlägt, sondern auch in der banalen, aber nicht unwesentlichen Kenntnis, wann man wo zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Dafür sind wir ihm auch nach unserer Reise sehr dankbar! So gehen wir nun wie die Frauen nach Jesu Tod früh am Morgen in Richtung Auferstehungskirche, oder, wie es im Deutschen heißt, zur „Grabeskirche“. Es ist schon irrwitzig, wie unterschiedlich die Blickwinkel manchmal sind und dass unser deutscher Sprachgebrauch nicht immer sehr positiv geprägt ist.

Es folgt der Besuch der Auferstehungskirche. Viele Erklärungen zu einzelnen Elementen der Kirche und das stille Erleben auf Golgota (vgl. Mk 15,22). Einige von uns werden nachmittags hierher zurückkehren und der lärmende Unterschied wird uns mit gewaltiger Wucht entgegenschlagen. Heute Morgen erwartet uns keine Warteschlange. Einfach hinzutreten, still werden und sehen. Freiraum und eine Atmosphäre des Auf-sich-wirken-Lassens genießen.

Nach dem Frühstück wollen wir uns alle am Jaffa-Tor treffen. Doch irgendwie hat es ein Schaf unserer (Reise-)Herde nicht geschafft. Aber ohne Zweifel und mit viel Durchhaltevermögen sind unsere beiden Hirten tatkräftig dabei, dass verlorene Schaf zum richtigen Tor zu lotsen. Alle wieder vereint, machen wir uns auf zum Lazarusgrab. Besser gesagt zu einer Stelle auf dem Ölberg, von wo aus wir auf die Mauer und das dahinter liegende Dorf schauen. Es ist beklemmend. Sieben bis acht Meter hohe Mauern, finanziert mit amerikanischen Steuerzahlermitteln und erbaut durch palästinensische Arbeitskräfte. Es wirkt so surreal, dass Menschen sich selbst einmauern. Herr Kempin erzählt von einer Begegnung, in der einer der Arbeiter ihm sagte, dass er an der Mauer tätig sei, um seine Familie versorgen zu können. Er wolle aber nicht nach dem Warum? fragen. Das würde den Menschen hinter der Arbeitskraft zerstören.

Nachdenklich ziehen wir weiter Richtung Betfage (Einzug Jesu in Jerusalem, vgl. Mk 11,1-11), zur Vater-Unser-Kirche und über den Jüdischen Friedhof bis zum Garten Getsemane (vgl. Mk 14,32). Hier soll Jesus gefangen genommen worden sein (vgl. Mk 14,43-52)? An diesem doch so friedlichen Ort? Wir blicken auf eine zweite Achse Jerusalems. Die Ost-West-Achse vom Ölberg über den Tempelberg bis zum Golgotaberg in der Auferstehungskirche. Zentrales Thema dieser Ost-West-Achse sind Geschichten zu Gericht und Eschatologie in den Büchern Joel und Sacharja: Am Ende der Tage wird es geschehen ... Am Fuß des Ölbergs, im Garten Getsemane beginnt für Jesus das Gericht. Wir kehren in die Stadt zurück und genießen erneut einen freien Nachmittag in Jerusalems Gassen.

Bei unserem Abendgebet lauschen wir dann auf der Dachterrasse einem Vortrag über den Konzilstext Nostra Aetate und was es heißt, die Schrift zu verstehen. Lesen Sie regelmäßig in der Bibel? Sind Ihnen einmal die gesamten kleingedruckten Querverweise zwischen Altem und Neuem Testament aufgefallen? Nein? Uns auch nicht sofort! Beziehungsweise haben wir es nicht verstanden, diese zu nutzen. Diese Reise hat uns gelehrt, dass es umso wichtiger ist, die Querverweise zu lesen. Das intratextuelle Lesen in der Bibel erschließt so vieles, dass es einem dann quasi wie Schuppen von den Augen fällt. Anschließend haben zwei Teilnehmer der Gruppe eine besondere Abendandacht vorbereitet: Was nehme ich aus Israel mit? Uff. Was für eine schwere Frage! Eine so intensive und lehrreiche Woche, wie soll dies alles auf zwei Quadratzentimeter weißen Zettel passen?

Nun gehen wir langsam dem Ende unserer Reise entgegen. Wir brechen am Morgen des vorletzten Tages wieder recht zeitig auf. Nun soll es an den Schnittpunkt der Achsen Jerusalems gehen. Wir gehen zum Tempelberg hinauf! Was für ein Schauspiel! Der Schmelztiegel jüdischer, christlicher und muslimischer Traditionen vereint auf einem Fleckchen Erde. Endlich stehen wir an dem Ort, der von allen Seiten immer sichtbar ist: Wir stehen vor der leuchtend goldenen Kuppel des Felsendoms! Wir sind fasziniert von den vielen Verknüpfungen, die Herr Kempin uns verdeutlicht. Abraham und Isaak, Mohammed und der Engel Jibril (lat. für Gabriel) sowie Jesus und die Ehebrecherin. Letztendlich steht zum Schluss immer Gott und der Mensch in der Mitte von allem. In allen Religionen. Was also hat Bestand? Was sollte verworfen werden?

Unser Weg führt uns weiter durch das Zionstor auf den christlichen Zion. Wir stehen vor der Dormitio-Abtei. Dort nehmen wir an der Eucharistiefeier teil. Anschließend gehen wir – begleitet von leisen Klängen eines Gitarrenspielers – zum Abendmahlssaal. Hier stellen wir uns die Frage, ob auch an diesem Ort Traditionen miteinander verknüpft sind. Und wie kann es anders sein: Ja! Der Abendmahlssaal wurde von den Kreuzfahrern direkt über dem Grab des David gebaut. Des Davids aus „Brothausen“ (Betlehem). So wird nochmal deutlich, was der Abendmahlssaal wirklich versinnbildlicht: Dass Jesus sich sein Leben lang ausgeteilt hat. Dies war sein Dienst an den Menschen. Was ist unser Dienst im Sinne Jesu?

Nach all diesen Eindrücken gehen wir wieder zurück zum Jaffa-Tor. Dort wartet bereits K'fir auf uns. Herr Kempin verabschiedet sich im Bus von uns – sein freier Nachmittag. Wir machen uns auf den Weg zu einem weiteren Erinnerungsort: der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem – „ein Denkmal und ein Name“ (vgl. Jes 56,5). Doch bevor Herr Kempin uns verlässt, gibt er uns folgendes mit auf den Weg: Wir sollen an die universale Botschaft bzw. den Auftrag dieses Ortes denken: Was Menschen Menschen antun. Es wird uns bald sehr deutlich bewusst werden, welchen Blickwinkel er uns damit aufzeigen möchte.

Dort angekommen betont unsere israelische Gruppenführerin, dass es in Yad Vashem zwei Aufgaben gibt. Zum einen gedenkt man ausschließlich der jüdischen Opfer des Holocaust, zum anderen der Gerechten, die Juden vor dem Tod bewahrt haben.

Wir erfahren viel Wissenswertes, sehen beeindruckende Installationen (Kinder-Memorial, Halle der Namen) und werden wie „Schüler“ und „Schülerinnen“ einem Wissenstest unterzogen. Wir verstehen nicht, warum immer wieder dieser Ansatz gewählt wird. Es ist unser vorletzter Tag. Wir sind bis zum Eichstrich mit Informationen gefüllt. Wir erleben kein Aufeinanderzugehen. Einige der Gruppe gehen auf eigene Entdeckungstour und erleben die unterschiedlichsten Gefühle. Was können Schuhe von einem Todesmarsch alles ohne Worte erzählen? Die restlichen Teilnehmer der Gruppe freuen sich, als wir dann doch noch einige persönliche Details erfahren. Mauern. Auch gedankliche. Uns wird deutlich, wie wichtig Erinnerung für die eigene Identität ist, aber auch, wie sehr Erinnerung fesseln kann. Für jeden von uns bleibt Auftrag, ebenfalls nachzufragen, was wir über unsere Vorfahren während der Nazizeit wissen oder wo geschwiegen wird. Wir verlassen Yad Vashem mit gemischten Gefühlen. Aber jeder Teilnehmer der Gruppe wird sagen, dass es sich lohnt!

Der Abend endet auf der Dachterrasse mit einer Dankesrunde. Jeder hält noch einmal für sich persönlich fest, was er/sie von dieser Reise mitnimmt: Am prägnantesten bleibt vielen folgender schöner Spruch im Ohr: „Ich bin mit Fremden hergekommen und fahre mit Freunden nach Hause.“ 

Aufbruch und neue Zuversicht: unser Galiläa

So brechen wir am nächsten Morgen auf. Die Koffer werden mit dem Traktorgefährt wieder zum Jaffa-Tor verfrachtet. Wir nehmen Abschied von einem Sehnsuchtsort und würden am liebsten wie die Jünger nach Galiläa zurückkehren.

Wir machen zunächst noch einen Zwischenhalt in Emmaus (vgl. Lk 24,13-35). Dort verbringen wir im Schatten der Überreste einer byzantinischen Kirche unsere letzte gemeinsame Gesprächsrunde und halten noch einmal zusammen (Mittags-)Mahl. Voll Dankbarkeit für die gute Reisebegleitung durch Herrn Kempin und Herrn Ostermann streben wir mit vielen Erinnerungen, Wehmut und Vorfreude auf Zuhause Richtung Flughafen. Es folgt eine Sicherheitskontrolle ohne Gleichen und schmerzlich müssen wir feststellen, dass lieb gewonnene Rituale uns wieder verlassen. Im Flieger isst jeder still und heimlich für sich allein. Wo wir doch in den letzten Tagen jede Mahlzeit immer gemeinsam und mit einem Gesang zusammen begonnen haben.

Letztendlich kommt jeder ins Grübeln, was er aus Israel gern in den Alltag mitnehmen möchte. Und so kommen wir zu Hause an. Denn schon in der Auferstehungskirche am leeren Grab des Josef von Arimathäa sagte Herr Kempin treffend: „Stellen Sie sich vor, dass Jesus in so einem Grab gelegen haben könnte.“ Doch die Botschaft, die jeder hier bekommt, ist noch immer die Botschaft des Engels: „Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hierEr geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen.“ (Mt 28,5-7). Und so trennen sich unsere Wege. Ein jeder und eine jede kehrt in den Alltag zurück, in sein/ihr Galiläa. Aber wir haben doch den einen oder die andere Freundin gefunden und man sieht sich ja immer zweimal im Leben. Mindestens!

Shalom!

Caroline Natzel