Studieren und beten in Cambridge

Bericht über meinen Aufenthalt in einem anglikanischen College in Cambridge

Nachdem ich diesen Herbst sowohl den theologischen Aufbaukurs von Theologie im Fernkurs als auch mein zweites Staatsexamen in Medizin abgeschlossen hatte, hatte ich plötzlich sehr viel freie Zeit: einen ganzen Monat ohne medizinische und theologische Veranstaltungen, ohne medizinische und theologische Lernpläne, bevor im Dezember mein letztes Studienjahr, das praktische Jahr im Krankenhaus beginnen würde. Diesen Monat wollte ich nutzen, um mich intensiv einigen theologischen Fragen zu widmen, bevor der Krankenhausalltag im praktischen Jahr meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen würde. Es waren Fragen, die mich schon lange beschäftigen: Was bedeutet es genau, dass Gott Mensch wird? Dass er für uns gestorben ist? Dass durch seinen Tod unsere Sünde hinweggenommen ist? Was bedeutet seine Auferstehung für uns? Der theologische Kurs hatte viele Ansätze aufgezeigt, sie zu beantworten und eine gute Grundlage und einen Gesamtüberblick gegeben, auf der ich nun weiter aufbauen wollte. 

Ich suchte also nach einem Ort, wo ich mich der Theologie widmen könnte und zugleich mein Aufenthalt in einen geistlichen Rahmen eingebettet sein würde. Meine Ortswahl fiel auf Cambridge. Das katholische Institut dort konnte keine externen Gäste unterbringen, doch es empfahl mir, mich in Ridley Hall zu bewerben. Ridley Hall ist eine Art anglikanisches Priesterseminar, wo angehende anglikanische Pfarrer während ihres Theologiestudiums unterrichtet werden, essen, schlafen und beten. Dort bewarb ich mich um ein Sabbatical, was so viel bedeutet wie einen Forschungsaufenthalt, und erhielt einige Wochen später die Zusage

Welcome to Ridley Hall

Gespannt auf meine Zeit in Ridley Hall  flog ich Anfang November nach London und fuhr dann mit dem Zug weiter nach Cambridge. Als ich schließlich durch das große Tor von Ridley Hall eintrat und sehr herzlich begrüßt wurde, fühlte ich mich direkt am richtigen Ort. Die englische Rasenfläche des Innenhofs war von alten Backsteingebäuden umgegeben: der Bibliothek, einem Verwaltungsgebäude mit der Lecture Hall und Seminarräumen, der Dining Hall, drei Häusern mit den Zimmern der Studenten und einer Kapelle. Ich wurde sehr warm willkommen geheißen und überall herumgeführt, bekam einen Bibliotheksausweis und die Essenskarte und eine Übersicht über die Vorlesungen, Seminare und Gottesdienste.

Während meiner Zeit in Ridley Hall verbrachte ich lange Stunden in der Bibliothek, wo ich fundamentaltheologische und religionsphilosophische Bücher zur Christologie las und an einem theologischen Gesamtkonzept des christlichen Glaubens arbeitete. Zusätzlich besuchte ich Vorlesungen und traf mich mehrmals mit Theologieprofessoren, um meine Fragen mit ihnen zu diskutieren.

Eingerahmt wurde mein Studium von den gemeinsamen Gebetszeiten und Mahlzeiten mit den anderen Studenten. Es gab täglich ein Morgen- und Abendgebet nach dem English Book of Common Prayer in der Kapelle, das starke Parallelen zur Laudes und Vesper aufweist; donnerstags fand eine Abendmahlsfeier statt. Die anglikanische Kirche weist ein breites Spektrum an Strömungen auf, von der sogenannten High Church, deren Liturgie noch sehr stark an ihre katholischen Wurzeln erinnert, über die Low Church, deren protestantischen Einschläge stärker hervortreten, bis hin zu evangelikal-charismatischen Strömungen. Ridley Hall gehört zur letzten Gruppe, was für mich einen sehr interessante Erfahrung war. Besonders auffällig fand ich die allgegenwärtige Praxis des freien Gebets. So wurde vor und nach den Vorlesungen um Erkenntnis und fruchtbares Arbeiten gebetet, freie Fürbitten waren fester Bestandteil jedes Gottesdienstes und auch bei meiner An- und Abreise gehörte es selbstverständlich dazu, dass für mich gebetet wurde. Zudem fiel mir die große Bibelfestigkeit auf. Es wurde viel und häufig in Gebeten und theologischen Argumenten aus der Bibel zitiert, die Schriftlesungen beim Morgen- und Abendgebet umfingen lange Abschnitte je aus dem Alten und Neuen Testament und Exegese des Neuen und Alten Testaments waren neben Homiletik die zentralen Studienfächer. 

Die Gottesdienste waren sehr frei gestaltet, beinhalteten viele interaktive Elemente und es wurden moderne Worship-Songs gesungen. Andere Teile des Spektrums der anglikanischen Kirche lernte ich durch Gottesdienstbesuche außerhalb von Ridley Hall kennen. In den traditionellen Colleges von Cambridge wurden mehrmals jede Woche Evensongs angeboten, eine vom Collegechor gesungene Vesper, sowie Sonntagsgottesdienste, die von den liturgischen Texten zum Teil kaum von den katholischen zu unterscheiden waren. Zudem gab es auch ein katholisches College, in dem ich die Messe besuchte­­­­­­­.   

Insgesamt war es eine fruchtbare Zeit für mich in Ridley Hall, in der ich mich intensiv mit Theologie beschäftigen konnte, ein anregender Austausch und eine sehr ökumenische Erfahrung. In sehr guter Erinnerung ist mir zudem die herzliche, im Gebet verbundene und den Mitmenschen zugewandte Gemeinschaft in Ridley Hall, deren Teil ich während meines Aufenthalts sein durfte.

Vera Throm