Literaturtipp

Michael W. Higgins: Thomas Merton

Der geerdete Visionär

Stuttgart (Verlag Katholisches Bibelwerk) 2015, 160 Seiten, 14,95 €

Thomas Merton – er würde in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern – war vieles: Mönch, Dichter, Intellektueller, Kontemplativer, Prophet, Mystiker, Friedensaktivist, Pazifist, Einsiedler. Er war eine schillernde, faszinierende Gestalt, die sich tiefgründig und engagiert zu Wort meldete und die Zeitzeugenschaft, die die Kirche zu allen Zeiten so dringend braucht (und die sie zu seinen Lebzeiten so lange vermissen ließ), mit großer Verve lebte.

Das Katholische Bibelwerk hat nun ein Buch veröffentlicht, das „eine kurze biografische Einführung in Thomas Merton, den Mann und den Mönch, den Denker und spirituellen Führer von Millionen zu bieten“ (9) versucht. Die Lebensgeschichte Mertons wird erzählt; hier erleben Leserinnen und Leser die vielen Volten und Kurven in Mertons Leben quasi hautnah mit. Das Buch nähert sich der manchmal schwierigen und komplexen, hoch intelligenten und streitbaren Persönlichkeit wertschätzend, aber nie oberflächlich oder unkritisch.

Nach Jahren der Suche und des ausschweifenden Studienlebens lässt sich Thomas Merton als Erwachsener taufen und landet schließlich bei den Trappisten, im Kloster Gethsemani in den USA. Als Mönch veröffentlicht er zahlreiche Schriften, u.a. „The Seven Storey Mountain“ (dt.: Berg der Sieben Stufen), in dem er mit erst 27 Jahren eindrucksvoll seine spirituellen Erfahrungen beschreibt. Der erfolg des Buches macht ihn quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Obwohl er als Mönch im Kloster lebt und stets die Zurückgezogenheit sucht, ist Merton als bekannter Schriftsteller auch Teil des öffentlichen Lebens. Aus seinem Selbstverständnis als Mönch und Christ heraus befasst er sich zunehmend mit sozialen und politischen Themen und mit der Kirche und ihrem Verhältnis zur Welt. Er schreibt gegen kirchliche Verbohrtheit und beklagt die Kakophonie in der Kirche; er lehnt zu Zeiten des Kalten Krieges die Theorie vom „gerechten Krieg“ ab und engagiert sich in der Friedensbewegung; er kritisiert Rassismus, den Wettlauf um die Nuklearwaffen und das Ausufern kapitalistischer Prozesse. Thomas Merton wird zu einer moralisch unüberhörbaren Stimme seiner Zeit: „Mertons Rolle in der Friedensbewegung [übersteigt] das bloße Liefern einer Sozialkritik von äußerster Aufrichtigkeit. Er [greift] die öffentlichen Instanzen an, die sich der Kriegsindustrie verschrieben [haben], die scharfen oder lauwarmen Befürworter der Nuklearwaffen, die patriotischen Bischöfe und gedankenlosen Politiker und die katholischen Moraltheologen (…)“ (94). Trotz enormer Schwierigkeiten mit seinen Ordensoberen und zeitweiligem Veröffentlichungsverbot bleibt Merton beharrlich. In seinen letzten Lebensjahren reist er zu vielen Vorträgen und schreibt unermüdlich Gedichte und Tagebücher. Am 10. Dezember 1968 stirbt Merton in Bangkok, wohin er zu einem internationalen Kongress gereist war, an den Folgen eines tragischen Unfalls im Alter von nur 53 Jahren.

Ute Leimgruber