Buchvorstellung: Vom Vorrang der Liebe

Christof Breitsameter/Stephan Goertz, Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, Freiburg i. Br. (Herder) 2020, 175 Seiten; ISBN 978-3-451-38954-2; 20,00 €.

Der Untertitel lässt aufhorchen – von einer Zeitenwende ist dort die Rede und das gleich in einem Themenfeld, in dem sich inhaltlich schon lange nichts mehr zu bewegen schien: in der katholischen Sexualmoral. Doch schon ist Vorsicht geboten: Der Untertitel weiß nicht von einer schon erfolgten Zeitenwende in der Sexualmoral zu berichten, sondern deutet den im Haupttitel angesprochenen Paradigmenwechsel (Vorrang der Liebe) für die katholische Sexualmoral.

Die Problemstellung der gegenwärtigen katholischen Sexualmoral verdeutlichen die Verfasser des Buchs gleich zu Beginn an einem eindrücklichen Beispiel: „Am Rande einer Fachkonsultation zur katholischen Sexualmoral in Berlin 2019 bemerkte ein junger Teilnehmer: ‚Ich habe meine Frau nicht geheiratet, um mit ihr Kinder zu bekommen, ich habe sie geheiratet, weil ich sie liebe.‘ Plausibler und schneller kann man eine gängige kirchliche Argumentationslogik kaum zu Fall bringen.“ (S. 9) Damit ist der Aufschlag gemacht für ein spannendes Nachdenken und Argumentieren für eine andere Argumentationslogik in der katholischen Moraltheologie. Die Autoren, die sich dieses Vorhabens annehmen, sind die beiden Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie. Christof Breitsameter und Stephan Goertz sprechen damit als anerkannte Fachexperten hinein in ihren Kollegenkreis der Moraltheologie, aber auch zu allen, die sich für neue Erkundungen und Argumentationen in der Sexualmoral interessieren. Die Verfasser verantworten das Buch gemeinsam; die einzelnen Kapitel sind aber klar einem der beiden Autoren als Haupturheber zuschreibbar, wie die Einleitung offenlegt.

Die Argumentation des Buches erfolgt in einem klaren und eindrucksvollen Dreischritt. Ein erster Teil nimmt unter dem Titel „Konturen der traditionellen Sexualmoral“ eher die Historie und die Genese der sexualethischen Normen in den Blick. Hier kommen die Themenfelder Nachkommenschaft, Reinheit, Bewertung der sexuellen Lust sowie Naturgemäßheit in den Blick. Die Darstellungen des zweiten Teils zielen auf die aus den traditionellen Konturen resultierenden Normen bzgl. sexueller Akte vor und außerhalb der Ehe, Empfängnisverhütung sowie Homosexualität. Der dritte Teil kann schließlich neue Fundierungen aufzeigen, indem auf den Aspekt menschenwürdiger Sexualität eingegangen wird und auch die Frage „Wozu verpflichtet die Liebe?“ diskutiert wird.

In diesem Durchgang kann die Liebe als der Bereich wechselseitiger Anerkennung als Zweck an sich herausgearbeitet werden. Spannende Perspektiven werden aufgezeigt und in einer Bilanz am Ende des Buchs wird ganz gemäß des am Beginn des Buchs erwähnten Ausspruchs des jungen Kongressteilnehmers der Vorrang der Liebe in der Sexualmoral argumentativ stark untermauert. Und für diese Liebe sind dann „Strukturen der Achtung zu schaffen, mit der Liebende ihre Liebe beschützen. Die Liebe selbst lässt sich nicht normieren.“ (S. 146)

Die Stärken dieses kompakten Bandes liegen zum einen in der gründlichen und nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit vielen „klassischen“ Argumentationslinien des Themenfeldes, aber auch darin, nicht in der historischen Darstellung stehenzubleiben, sondern argumentativ innovative Wege zu beschreiten. Die Autoren machen sich verdient um eine klare theologisch-ethische Argumentation – leider zuweilen in einer unnötig komplexen Sprache. Bedauerlich ist auch, dass alle Verweise und Belege nicht in Fußnoten angegeben, sondern erst am Ende des Buches zusammengestellt sind, was ein häufiges Hin- und Herblättern erforderlich macht, wenn man den Rahmen und den Grund nachvollziehen möchte, in bzw. auf dem die Darstellungen erfolgen.

Mit diesem empfehlenswerten Buch sind somit Grundlinien für ein spannendes und lohnenswertes weiteres Nachdenken gezeichnet. Denken Sie also selbst weiter – es ist schließlich Ethik, und da ist die sittliche Kompetenz jeder und jedes Einzelnen gefragt!

 

Stefan Meyer-Ahlen