Die Partizipation der Getauften an Entscheidungsprozessen – ein uraltes Privileg im Christentum

Im Blick auf heute: ein Blick ins Neue Testament

„Partizipation aller Gläubigen“ ist in der momentanen Krise der katholischen Kirche zu einem großen Schlagwort und zugleich zu einem Kampfbegriff geworden: für die einen unmöglich, für die anderen längst überfällig. Schauen wir in die älteste Urkunde unseres Glaubens, ins Neue Testament, müssen wir sagen: Partizipation aller Getauften an den Entscheidungsprozessen der Gemeinde ist etwas ganz Selbstverständliches. „Koinonia“, „hl. Geist“, die Anrede „Brüder und Schwestern“ als Ausdruck fiktiver Geschwisterlichkeit unter den Gläubigen – und natürlich „Charisma“, alle diese großen Wörter des Anfangs implizieren die Überzeugung, dass nur in einem Miteinander auf Augenhöhe Gottes Geist wirksam werden kann.Das Überraschende ist dabei: Gerade was die konkrete Entscheidungsfindung angeht, waren die frühen Christen erstaunlich weltgewandt: Sie adaptierten Vorgänge, wie sie in den Städten im Osten des Mittelmeeres, also dort, wo sich Christentum am Anfang ausgebreitet hat, gang und gäbe waren – und erst ab der römischen Invasion Schritt für Schritt an den Rand gedrängt worden sind. Auch die Aufhebung der Partizipation aller an wichtigen Entscheidungen und insbesondere die Verdrängung von Frauen aus öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, wie sie von den Pastoralbriefen – und von ihnen allein – propagiert wird, ist damit genauso eine Adaption an gesellschaftlich bestehende Strukturen, in diesem Fall: an die streng patriarchalischen Strukturen der römischen Imperialmacht. Dazu drei Streiflichter – samt einem Ausblick.

Die paulinischen Ekklesien – und die Grundrechte der Getauften

Der Begriff „Ekklesia“, die Selbstbezeichnung der ersten christlichen Gemeinden, sollte nie mit „Kirche“ übersetzt werden. Denn die Adressaten des Paulus denken dabei an etwas völlig anderes: an die Bürgerversammlung einer Stadt, in der über die wichtigen Belange beraten und am Ende per Abstimmung ein Beschluss gefasst wird. Allerdings haben in einer städtischen Ekklesia nur die freien Männer mit Bürgerrecht eine Stimme, also die männlichen Vertreter alteingesessener Familien, die dieses Recht von Generation zu Generation vererben. Sie entscheiden über alle anderen, die auch in der Stadt leben: Frauen, Sklaven, Männer ohne Bürgerrecht.

Das ist in der paulinischen Ekklesia ganz anders: Hier haben auch Frauen, auch Sklaven – und natürlich auch Männer ohne Bürgerrecht gleiches Recht und gleiche Stimme. Mit der Taufe betritt man diesen anders gestalteten, eben vom Geist Gottes kreierten Sozialraum: „Alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angezogen. Da gibt es nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr männlich und weiblich. Alle nämlich seid ihr ein einziger in Christus Jesus“ (Gal 3,27-28; vgl. 1 Kor 12,13).

Die Gemeinde von Korinth tritt „in Ekklesia(form)“ zusammen (vgl. 1 Kor 11,18), es gibt regelmäßig Vollversammlungen (vgl. 1 Kor 14,23). Mann wie Frau beten und reden prophetisch (vgl. 1 Kor 11,4-5), d.h. was ihnen der Geist gerade eingibt. Und: Jede und jeder, der bekennt, dass „Christus der Herr ist“, hat den Geist (pneuma) – und damit nicht nur eine wichtige Stimme, sondern vor allem auch eine Aufgabe im „Leib“ der Gemeinde (vgl. 1 Kor 12). Natürlich braucht es Moderation. Auch dazu gibt es Leute mit dem entsprechenden Charisma, in Korinth kyberneseis (Steuermannskünste – in der Mehrzahl!) genannt (1 Kor 12,28) – ganz anschaulich für die Stadt an zwei wichtigen Häfen. Aber: Es gibt am Ende Abstimmungen, nach denen sich auch der Apostel richtet (vgl. 2 Kor 2,6; 8,19). Nur in einem Punkt kneift Paulus: als ihn die Gemeinde von Korinth zur Rechenschaft ziehen will (vgl. 1 Kor 4,1-5) – vermutlich geht es um finanzielle Angelegenheiten rund um die Kollekte nach Jerusalem. Da steigert sich Paulus in theologische Tiraden hinein und behauptet am Ende: „Der Pneumatiker beurteilt alles, er selbst wird von keinem beurteilt … Wir aber haben den Geist Christi“ (1 Kor 2,15f) – und meint sich damit selbst. Dabei hat die Gemeinde nur eingefordert, was in der antiken Demokratie gang und gäbe ist: die Rechenschaftspflicht der Beamten. Anders gesagt: Die Korinther haben sehr wohl verstanden, was ihre Rechte sind, wenn sie von Paulus als „Ekklesia“ bezeichnet werden. Und sie nehmen Paulus eigentlich nur beim Wort.

Kurz: Wer sich für die Zugehörigkeit zur „Bürgerversammlung Gottes“ entscheidet, an den Gekreuzigten als den Bevollmächtigten Gottes glaubt und sich taufen lässt, für den gelten in paulinischen Gemeinden auch die Grundrechte der Getauften, die allerdings schon zur Zeit des Paulus manchmal deutlich eingefordert werden mussten.

Die Presbyterkollegien – und die Suche nach Gottes Willen im Diskurs

Es gibt durchaus Variationen in den Gemeindeverfassungen, wie sie uns die Schriften des Neuen Testaments bezeugen. In denjenigen Gemeinden, in denen Presbyterkollegien, also Gremien von „Ältesten“ etabliert sind, sind es die Zusammenkünfte dieses „Rates“, in denen die eigentlichen Entscheidungen fallen – nach Diskussion und Abstimmung und nicht ohne damit vor die Ekklesia zu treten.

Idealtypisch wird ein solcher Entscheidungsvorgang in Apg 15 erzählt, wo der Evangelist Lukas in seinem „zweiten Band“ den Ablauf des Apostelkonvents schildert: Nachdem die Frage, ob auch Heiden, die zum Christusglauben kommen und sich taufen lassen, zusätzlich noch beschnitten, also zuerst rituell erst Juden werden müssen – oder nicht, die Gemüter in der Vollversammlung erhitzt und die Christusgläubigen in zwei Lager gespalten hat, ziehen sich „die Apostel und die Presbyter/Ältesten“ zur Beratung zurück. Die Repräsentanten der angefeindeten „laschen“ Linie, Barnabas und Paulus, berichten über ihre beschneidungsfreie Praxis. Petrus legt ein Votum vor – und unterstützt den „laschen“ Kurs. Jakobus ist in seinem Votum vorsichtiger – und fordert zwar nicht die Beschneidung, aber zumindest „Anstandsregeln“ ein, die Heiden zu beobachten haben, wenn sie ins Gottesvolk aufgenommen werden (die sog. Jakobusklauseln). Wer sich durchgesetzt hat, erfährt man im Text von Apg 15 erst später, in dem Brief nämlich, der den Gemeinden in Antiochia, Syrien und Kilikien überbracht werden und die neuen Standards bekanntmachen soll. Daraus geht hervor: Es war das kleine Gremium von „Aposteln und Presbytern“, in dem die inhaltliche Entscheidung getroffen worden ist. Gemäß der griechischen Floskel „es gefiel …“ wurde am Ende der Debatte über die vorgetragenen Voten abgestimmt – und das Votum des Jakobus übernommen. Diese Entscheidung wurde der Ekklesia mitgeteilt – und vermutlich haben alle miteinander über das vorgeschlagene Vorgehen abgestimmt, nämlich den Beschluss durch einen Rundbrief bekannt zu machen, und: in der Vollversammlung wurden die dafür vorgesehenen Personen gewählt.

Mehreres ist an diesem Entscheidungsfindungsprozess auffällig. (1) So ähnlich laufen die Vorgänge in den meisten Städten des griechischen Ostens ab, solange Rom noch nicht seine Hand auf die Verwaltung gelegt hat: Im Rat der Stadt werden die anstehenden Probleme beraten, Voten eingebracht – und darüber abgestimmt. Der Ekklesia, also der Bürgervollversammlung, wird die Entscheidung vorgetragen und begründet, manchmal auch werden vorbereitete Voten zur Abstimmung vorgelegt. Auf jeden Fall werden Personalfragen in der Vollversammlung abgestimmt. (2) Christliche Gemeinden übernehmen für ihre eigenen Entscheidungsfindungsprozesse das bewährte Vorgehen, wobei der Zugang zur Vollversammlung eben allen Getauften offen ist. (3) Probleme kommen offen auf dem Tisch. Die Vollversammlung ist der Ort dafür. Nur offen gelegte Streitpunkte können bewältigt werden. (4) Wenn es im Brief der Apostel und Ältesten heißt: „Dem heiligen Geist und uns hat es gefallen …“, dann steckt dahinter die Überzeugung, dass durch die Debatte unterschiedlicher Lösungsvorschläge und die Abstimmung am Ende der hl. Geist zum Zuge kommt.

Die katholische Kirche heute wäre mit ihren (sogar demokratisch gewählten) Räten für eine derartige Entscheidungsfindungsform bestens vorbereitet. Nur eines fehlt: das Abstimmungsrecht für alle Ratsmitglieder (ohne Unterschied und ohne Klauseln) und das Vertrauen, dass in der Debatte und abschließenden Abstimmung der hl. Geist zu Wort kommt.

Die Pastoralbriefe – und der Bischof als Monarch

Ein einziges Schriftenkorpus im Neuen Testament setzt andere, nämlich gegenteilige Akzente: die sog. Pastoralbriefe an Timotheus und Titus. Sie sind ca. 140 n Chr. im Namen des Paulus geschrieben, der seine Briefe in den Jahren 50-55 n. Chr. verfasst hat,  und wollen – einer antiken Tradition folgend – aussprechen, was Paulus „heute“ sagen würde, unter anderen Bedingungen, in einer anderen Zeit. Sachlich liegen sie weit von Paulus entfernt, denn sie befürworten ein monarchisches Führungsmodell: Ein Einzelner hat das Sagen – in allen Bereichen. Obwohl die Pastoralbriefe von der Textmenge her nicht einmal drei Prozent des gesamten Neuen Testaments ausmachen und inhaltlich eigentlich auf „verlorenem Posten“ stehen, haben sie sich in der Geschichte des Christentums eindeutig durchgesetzt. Wohl einfach deshalb, weil sie auf ein Modell rekurrieren, das den Menschen der Antike rund um das Mittelmeer bekannt und vertraut war, von Kindesbeinen an eingeübt: der Sozialcode, der in einem antiken Haushalt herrscht. Da hat ein Einziger das Sagen, der sog. pater familias, der jeweils älteste Mann eines Clans. Er hat innerhalb seines Hauses absolute Verfügungsgewalt über die Finanzen, in Sachen des Rechts und des Kults. Er entscheidet über sämtlichen Kapitalfluss. Er fungiert als Richter für alle, die seinem Haushalt unterstehen. Und er steht als Hauspriester allen kultischen Riten vor.

Gemäß dem Plan der Pastoralbriefe soll die „Ekklesia“ in einen „Haushalt“ umgewandelt werden; Timotheus wird fiktiv von (dem längst verstorbenen) Paulus dazu bestellt (vgl. 1 Tim 3,15). Damit ist eigentlich alles gesagt. Der Mann, dem alle Verfügungsgewalt in die Hände gelegt werden soll, wird verharmlosend „Bischof“ (episkopos) genannt, was eigentlich so viel wie „Revisor“ bedeutet. An einer einzigen Stelle wird er – völlig sachgemäß – mit einem „Hausverwalter“ (oikonomos) verglichen. Gemäß römischem Recht repräsentiert ein solcher „Ökonom“ den ihm übergeordneten pater familias vor Ort, also etwa in einer Außenstelle auf einem Landgut. Vom „Bischof“ der Pastoralbriefe heißt es in Tit 1,7: „Es muss der Bischof unbescholten sein – wie ein Hausverwalter Gottes.“ Und wie einem Hausverwalter in Vertretung des pater famlias legen die Pastoralbriefe dem „Bischof“ die monarchische Führung seines Gemeinde-Haushalts in die Hände: Er kontrolliert den Geldfluss, verfügt also offensichtlich über eine Gemeindekasse, aus der er besonders tüchtige Presbyter (die es um diese Zeit auch schon in paulinischen Gemeinden gegeben hat) mit doppeltem Gehalt belohnt (vgl. 1 Tim 5,17) – und anderen die finanzielle  Unterstützung entzieht, etwa den sog. Witwen (s.u.). Der „Bischof“ genannte pater familias hat Presbyter vor Denuntiationen zu schützen, aber ihm allein obliegt es auch, eventuelle Beschuldigungen zu prüfen und im Fall einer rechtmäßigen Anklage den betreffenden Presbyter öffentlich zu rügen (vgl. 1 Tim 5,19-20). Und: Er allein entscheidet Personalfragen. Im Plan der Pastoralbriefe soll er es sein, der zukünftig die Presbyter auswählt und ihnen die Hände auflegt (vgl. 1 Tim 5,22; Tit 1,5). Bisher sind in paulinischen Gemeinden vermutlich einfach besonders stark engagierte Männer auf Grund ihrer Autorität in dieses Gremium gelangt. Auffälligerweise fällt die Rubrik „Kult“ aus. Dafür nimmt der „Bischof“ die Aufsicht über die Lehre in die Hand. Das geht insbesondere zu Lasten der Frauen. Denen wird nämlich scharf verboten, künftig (noch) zu lehren: „Zu lehren aber erlaube ich einer Frau nicht – und auch nicht eigenmächtig zu handeln gegenüber einem Mann, sondern zu sein in Stille!“ (1 Tim 2,12). Und ein besonderer Dorn im Auge sind den Pastoralbriefen die sog. „jungen Witwen“, offensichtlich ehefrei lebende Frauen, die nicht heiraten – und sich damit auch nicht unter die Verfügungsgewalt eines Gemahls als ihres pater familias stellen, wobei sie selbst als Ehefrau juristisch die Rolle einer Tochter einnehmen würden (filiae loco). Die Pastoralbriefe werfen ihnen vor, sie seien faul, obendrein geschwätzig und würden unstet in den Häusern umherschweifen und über die Dinge reden, über die ihnen nicht zusteht zu reden (vgl. 1 Tim 5,13). Vermutlich haben diese ehefreien Frauen nichts mehr und nichts weniger als das betrieben, was wir heute „Einzelseelsorge“ nennen – und sie wurden von der Gemeinde dafür vergütet, so dass sie nicht arbeiten mussten. Das soll gemäß 1 Tim 5,1-16 abgestellt werden: „Jüngere Frauen sollen heiraten, Kinder gebären, im Haus alles zum Rechten lenken …“, kurz: tüchtige Hausfrauen werden, wie sich das ein gestandener Römer vorstellt. Die Pastoralbriefe formulieren es so: „dem Gegner keinen Anlass geben zur Verleumdung“; anders gesagt: die christlichen Frauen sollen nicht aus dem (römischen) Rahmen fallen!

Streibare Witwen – und ihre Niederlage als Grundlage für ein neues Gesicht der Kirche

Vermutlich haben sich diese „jungen Witwen“ aber nicht so schnell kleinkriegen lassen, zumindest nicht im syrischen Raum. Das bestätigt die sog. syrische Didaskalie, eine Kirchenordnung aus der Mitte des 3. Jh., verfasst von einem Bischof. Da hat sich die Polemik gegen die Witwen noch erheblich verschärft: Sie würden sich in fremden Häusern herumtreiben; sie würden über die schwierigsten theologischen Fragen sprechen, von denen sie gar keine Ahnung haben, so dass Außenstehende über sie lachen, „zumal weil ihnen von einer Frau (!) vorgetragen wird“ (syrDid 15); sie würden nicht nur Taufunterricht geben, sondern sogar selbst taufen. Ja, sie würden eigene Finanzströme und -ressourcen managen – an der Kasse des Bischofs vorbei! Ihnen soll das Handwerk gelegt werden – genauer: Sie sollen in eine vom Bischof anerkannte Kategorie von mitarbeitenden Frauen überführt werden, die sog. Diakonissen, die voll und ganz im Auftrag des Bischofs und nur in seinem Sinn agieren, d.h. diejenigen Hilfsdienste übernehmen, für die sie abgestellt werden: unter dem Vorsitz des Bischofs Frauen in das Taufbad führen, kranke Frauen besuchen; alles, um den Bischof vor ungebührlicher Nähe zu Frauen und damit vor übler Nachrede zu schützen.

Damit sind die grundsätzlichen Bahnen gelegt für die Weiterentwicklung des monarchischen Bischofsamtes, das – genau besehen – eine Adaption der Funktion des römischen pater familias in einem römischen Haushalt für die christliche Gemeinde ist. Was die Pastoralbriefe im Auge hatten und was sich dann allmählich vehement durchsetzt ist – genau besehen – eine Anpassung der christlichen Gemeindestrukturen an die römische Vorstellung von einem geordneten Haushalt. Die in den christlichen Gemeinden selbstverständliche und allmählich in organisatorische Strukturen gegossene Partizipation und subsidiäre Eigenverantwortlichkeit männlicher wie weiblicher Gläubiger wird gekappt. Die größer werdenden Gemeinden sollen zu – für Rom – zuverlässigen Gruppierungen mit einer straffen Führung umgewandelt werden und den Geruch einer Gegengesellschaft mit einer ganz anderen Sozialstruktur verlieren. Nach dem Motto: „Wir sind die besseren Römer!“ Letztlich war das die Grundlage für die Anerkennung der Christen als gleichberechtigte Partner im (eigentlich polytheistisch ausgerichteten) Römischen Reich – mit Zugang zu allen öffentlichen Ämtern samt entsprechenden Aufstiegschanen. Allerdings um einen hohen Preis!

Umgekehrt gilt im Blick auf heute: Wer auf die Pastoralbriefe baut, müsste eigentlich auch ihr Grundanliegen aufgreifen – und dürfte nicht einfach formal auf das monarchische Bischofsamt setzen (und das nicht einmal buchstabengetreu: denn der Bischof der Pastoralbriefe muss verheiratet sein und Kinder haben, um die Qualitäten eines energischen Hausvaters als entscheidendes Auswahlkriterium vorzeigen zu können, vgl. 1 Tim 3,4-5!). Den Pastoralbriefen geht es ja um eine Angleichung an den gesellschaftlichen Mainstream ihrer Umgebung. Für uns in Westeuropa würde das bedeuten: Wer sich bei uns heute auf die Pastoralbriefe beruft, müsste eigentlich die Anpassung an den gesellschaftlichen Mainstream fordern, wie er in der westlich geprägten Welt praktiziert wird, also: demokratische Strukturen, die Standards der Gleichberechtigung von Mann und Frau usw. Nach dem Motto: Bei uns findet ihr die „besseren Demokraten“.

Ausblick: Konsequenzen eines (möglichen) Strukturwandels

Der Auftakt des synodalen Weges in Frankfurt am Main hat gezeigt: Strukturwandel ist möglich, auch in der katholischen Kirche. Der gemeinsame liturgische Einzug von Klerikern und Laien, Bischöfen im Amtsornat und Frauen mit Maria 2.0-Schal, war ein symbolträchtiges Zeichen, das – wie insbesondere die negativen Reaktionen gezeigt haben – über alle Lager hinweg sehr gut verstanden worden ist und sich auch in der Geschäftsordnung niedergeschlagen hat: in der alphabetischen Sitzordnung mit gleichem Rederecht für alle.

Ein solcher Strukturwandel hat Konsequenzen, die bereits in Frankfurt sichtbar wurden: Nicht die Einsetzung in ein Amt (durch ein Auswahlverfahren, das nach außen nicht transparent gemacht wird) verbürgt Verfügungsgewalt. Vielmehr sind im offenen Disput Argumente und Kompetenzen gefragt – und werden in offenen Abstimmungen nach demokratischen Regeln gewichtet. Ideologische Verbrämungen können historisch und hermeneutisch aufgedeckt werden.

Beim ersten großen Strukturwandel in der Anfangszeit der Kirche waren die Frauen die großen Verliererinnen. Im anstehenden Strukturwandel werden es die bisherigen Amtsträger sein. Dass es Gegenwehr gibt, ist selbstverständlich. Aber wenn der hl. Geist, der ja laut kirchenamtlicher Theologie immer noch allen Gläubigen geschenkt wird, wirklich zu Wort und zum Durchbruch kommen soll …

 

Martin Ebner

Prof. Dr. Martin Ebner lehrte Exegese des Neuen Testaments an den Universitäten Münster und Bonn. Seit 2019 ist er im Ruhestand. Zur persönlichen Homepage gelangen Sie hier.

 

 

Literaturhinweise

Ausführlich wird die Thematik auch in folgenden Themenheften behandelt:

Welt und Umwelt der Bibel 3/2020: „Diakone, Witwen, Presbyter. Ämter in der frühen Kirche“

Bibel und Kirche 2/2019: „Macht und Kirche. Biblische Impulse“

Zur „Welt“, in der sich die ersten christlichen Gemeinden formierten und ihre eigenen Akzente zu setzen versuchten, die man aber nur erkennen kann, wenn man die „normale Welt“ der Antike kennt, vgl. M. Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt I (GNT 1,1), Göttingen 2012.