Buchvorstellung „Anders glauben, nicht trotzdem. Sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen“

Wie kaum ein anderes Thema beschäftigt die katholische Kirche der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in ihren eigenen Reihen, in Deutschland spätestens seit 2010. Nicht von ungefähr wird die fundamentale Erschütterung der Kirche mit der Reformation im 16. Jh. verglichen. In der öffentlichen Debatte steht allerdings die juristische Aufarbeitung im Vordergrund. Dass die Erschütterung durch den sexuellen Missbrauch viel tiefgreifender geht, ist der Tenor des Buches des Salzburger Dogmatikers Hans-Joachim Sander: „Daher ist der kirchliche sexuelle Missbrauch mehr als ein Straftatbestand. Er ist ein Glaubenstatbestand, weil darin dem falschen Gott gehuldigt und einem extrem gefährlichen falschen Glauben nachgegangen wird. Dieses Glauben muss anders werden, weil sonst Gott und der Glaube an seine heilvolle Macht an der Verschaltung mit diesem Missbrauch zerbrechen.“ (22) Was für Sander auf dem Spiel steht, ist die Glaubwürdigkeit des Glaubens selber und damit auch die Glaubwürdigkeit der Kirche, die dafür einstehen sollte. Daher hat sich die Theologie der Herausforderung des sexuellen Missbrauchs zu stellen.

Ausgehend von seiner persönlichen „Naivität“ entfaltet Sander seine theologische Auseinandersetzung mit dem sexuellen Missbrauch in sieben Schritten: Zunächst geht es in einer Chronologie der Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs und des kirchlichen Umgangs damit darum, was da eigentlich global in der Kirche geschieht. Die Komplexität des sexuellen Missbrauchs zeigt sich zweitens darin, wem dieser geschieht, an aller erster Stelle den unschuldigen Opfern, aber auch der kirchlichen Hierarchie mit ihrer Sexualmoral und „scheinheiligen Entweltlichung“, den staatlichen Instanzen, der empörten Gesellschaft, den Gläubigen mit „ihrer Wohlfühlpastoral und ihrer Hermeneutik des Vertrauens“. Drittens geht es darum zu zeigen, warum der Missbrauch die Grundfesten des christlichen Glaubens erschüttert, warum der sexuelle Missbrauch auch ein Missbrauch an Gott und seinem Evangelium ist. „Daher wage ich die Behauptung, dass Gott sich über den Missbrauch in seiner Kirche schämt. Und ich wage die zweite Behauptung, dass diejenigen, die das nicht sagen können, die Möglichkeit verlieren, sich mit den betroffenen Opfern, Überlebenden und jenen, die nicht überlebt haben, zu identifizieren.“ (113). Die Orte, an denen Missbrauch geschieht, sind Orte der kirchlichen Normalität. Das Wo des Missbrauch, das damit im vierten Schritt aufgezeigt wird, zeigt die tiefgreifende Bosheit des Geschehens. Wohin diese Bosheit führt, erläutert der nächste Schritt, der angesichts der Unglaubwürdigkeit der Kirche im Umgang mit sexuellem Missbrauch die Frage stellt, wie denn eine der Komplexität des Geschehens angemessene Gegenmacht zur Bosheit des sexuellen Missbrauchs aussehen könnte. Der sechste Schritt fordert einen Strategiewechsel ein, um das Böse, das der sexuelle Missbrauch in der Kirche markiert, abwehren zu können. „In jedem Fall ist der locus theologicus Kirche zu einem Ort geworden, an dem ziemlich genau zu erkennen ist, wie die christliche Rede von Gott in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Wer dem ausweicht, trägt zum Untergang der katholischen Religionsgemeinschaft bei.“ (161) Die Folgen, die sich daraus ergeben, stellen siebtens die Kirche vor die Frage, wie sie ihrer eigenen wachsenden Unglaubwürdigkeit begegnen soll, wie sie angesichts der Komplexität des Missbrauchs und der Demütigung einer schwindenden Glaubwürdigkeit weiter glauben soll.

Die Hoffnungsperspektive, die Sander nach diesem siebenteiligen Parcours einer schonungslosen Analyse eröffnet, besteht darin – wie der Buchtitel pointiert formuliert –, nicht trotzdem, sondern anders zu glauben. Die Reformbemühungen innerhalb der katholischen Religionsgemeinschaft, seien sie charismatisch wie in den neuen geistlichen Bewegungen oder protestantisierend, wie in der Wahrnehmung zunehmender Individualisierung, bleiben unter dem Vorzeichen des „trotzdem“. Sander formuliert unter Rückgriff auf das Bild der antiken Arena, dem Ort der frühen Christenverfolgungen, wie in der Arena des sexuellen Missbrauch ein Überleben der Kirche und des Glaubens möglich sein kann. Es geht dabei nicht um eine andere Kirche, sondern darum, wie die Kirche angesichts des Missbrauchs in ihren eigenen Reihen anders den christlichen Glauben als ein nicht aufgebbares Erbe der Menschheit weitertragen, wie sie als Glaubensgemeinschaft und Pastoralgemeinschaft von Christinnen und Christen ihren Dienst am Heil der Menschen gestalten kann. „Es kommt in der Arena des Missbrauchs primär auf jede und jeden einzelnen gläubigen Menschen an und auf sie muss man sich verlassen, ihnen also vertrauen. Das Misstrauen, das der Missbrauch in der Kirche und über die Kirche gesät hat, wird nur dann nicht übel aufgehen, wenn dieses Vertrauen gewagt und durchgehalten wird.“ (218)

Dieses Buch ist eine Provokation, es zeigt analytisch die theologische Komplexität des sexuellen Missbrauchs auf, in dem mithilfe kulturwissenschaftlicher, sprachanalytischer und philosophischer Instrumente die Frage nach der Zukunft christlicher Gottesrede und der Kirche als Institution dieser Gottesrede gestellt wird. Die Lektüre ist daher mitunter eine Zumutung, nicht nur wegen der komplexen sprachlichen und inhaltlichen Darstellung, sondern auch wegen der ernüchternden Relativierung der Kirche als Religionsgemeinschaft. Wer angesichts des sexuellen Missbrauchs in der Kirche nicht den Kopf in den Sand steckt und wem der christliche Gottesglaube am Herzen liegt – beides trifft für den Autor dieses Buches zu –, sollte sich der Zumutung dieses Buches und der Provokation, anders zu glauben, stellen.

Thomas Franz