“Fratelli tutti” ist keine Sozialenzyklika mit theologischem Defizit

Die europäische Debatte, ob die Enzyklika „Fratelli tutti“ zu wenig Theologie enthält, erschließt sich mir immer weniger und macht mich ratlos. Was mich, als eine in Lateinamerika inkulturierte Theologin, anspricht, ist, dass sich Papst Franziskus in ihr gerade nicht um theologische Spitzfindigkeiten kümmert. Vielmehr bringt er in einfacher und direkter Weise den Gott Jesu zur Sprache; den Gott, der der Freund des Lebens ist (Weish 11,26) und von dem Irenäus von Lyon sagen kann: „die Herrlichkeit Gottes ist der Mensch, der lebt!“ Diese Enzyklika ist gewiss keine Sozialenzyklika mit theologischem Defizit, sondern ein starkes theologisches Statement und führt zurück zum Glutkern dessen, was Christsein bedeutet.

Diese Botschaft vermittelte Papst Franziskus vom Anfang seines Pontifikats an in seinen prophetischen Zeichenhandlungen: wenn er die Nähe zu den Migranten in Lampedusa sucht und das Mittelmeer als größten Friedhof Europas bezeichnet; wenn er jugendlichen Strafgefangenen die Füße wäscht und damit die Verwerfungen der Gesellschaft sichtbar macht; wenn er den Schulterschluss mit den lateinamerikanischen sozialen Bewegungen sucht, mit denen ihn die Utopie einer alternativen globalen Ordnung verbindet, die nicht vom Gott Mammon bestimmt ist. All das ist nicht bloßes Sozialengagement eines Papstes, der leider kein zünftiger Theologe ist, sondern in zutiefst jesuanischer Weise macht Franziskus in diesen Aktionen sichtbar: So ist Gott!

Dieses zentrale Motiv, dass sich durch sein Pontifikat zieht, fasst er in „Fratelli tutti“ zusammen und bringt es ausdrücklich zur Sprache. Wenn er es in Assisi unterzeichnet, so evoziert er damit den Kontext seines heiligen Namensgebers. In einer Kirche, die zutiefst mit der feudalen Ordnung und dem Frühkapitalismus verwoben war, die die Opfer dieser Systeme aus den Augen verloren hatte und sich in theologischen Schulstreitigkeiten erging, hat Franz von Assisi das Christentum gerettet, in dem er es zum wesentlichen Anliegen Jesu zurückgeführt hat. Wer der Gott Jesu Christi ist, erschließt sich nicht im theologischen Oberseminar, sondern dem, der die Wirklichkeit mit den Augen der Verletzlichsten wahrnimmt und die „gute Botschaft“, das „Eu-angelion“ für die Opfer des jeweiligen Gesellschaftssystems tatkräftig erfahrbar macht.

Menschen in Armut und Unsichtbarkeit stellt der Papst auf eindringliche Weise als unser aller Geschwister dar. Europa, die wirtschaftlich potenten Länder, versuchen, so gut oder schlecht dies geht, die Opfer ihrer Politik unsichtbar zu machen oder sie jenseits ihrer Grenzen zu halten. Obwohl man auch in einem Land wie El Salvador versuchen kann, unter einer Glocke zu leben, die vor der Wahrnehmung der Ausgegrenzten und Überflüssigen schützt, so ist dieser Versuch doch letztlich zum Scheitern verurteilt. Ignacio Ellacuría, der 1989 ermordete Jesuit und Rektor der zentralamerikanischen Universität, hat es in einem drastischen Bild so formuliert: Ein wesentliches Instrument der ärztlichen Diagnose ist die Analyse der Ausscheidungen, des Kots eines Patienten, einer Patientin. Was er damit sagen will: der Zustand der globalen Weltgesellschaft wird brutal an ihren Rändern sichtbar, an denen sie ihre todbringenden Ausscheidungen absetzt. In Europa, in den wirtschaftlichen potenten Ländern, sind die, die „draußen“ sind, die keiner braucht, die „Entsorgten“ und Überflüssigen, im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft noch immer ein relativ geringer, wenn auch wachsender Prozentsatz. Doch in Ländern wie El Salvador kehrt sich dies um. Hier ist es die Mehrheit, die für keinen globalen Markt interessant ist und die keinerlei wirtschaftliche Perspektive hat. Diese verzweifelte Situation vor allem junger Menschen implodiert vielfach in selbstzerstörerischer Gewalt, und der Staat reagiert darauf fast ausschließlich mit noch brutalerer Gegengewalt und Militarisierung, obwohl er meist selbst in das große organisierte Verbrechen involviert ist.

Papst Franziskus kennt diese tödlichen Dynamiken nur allzu gut aus seiner Zeit als Erzbischof in Buenos Aires und reagiert gerade deshalb darauf nicht mit moralisch wertenden Urteilen. Er lädt uns vielmehr ein, wie Jesus die Welt mit den Augen der Opfer des gegenwärtigen Systems zu sehen und sie von ihnen her radikal neu zu denken. Sein grundlegender Ansatz ist die Geschwisterlichkeit. Der Text der Enzyklika verführt in keiner Weise zum Ressentiment oder zu Rachegelüsten, doch er denunziert, wie unchristlich es ist, die wirtschaftlichen Interessen als Motor dieser Welt zu akzeptieren, im naiven Glauben, dies hätte schließlich auch positive Auswirkungen auf die, die draußen und unten sind.

Der Imperativ, der von dieser Enzyklika ausgeht, lautet: Versucht, die Welt so zu denken, dass ihr wirklich jeden und jede auf diesem Planeten als euren Bruder, eure Schwester anerkennt – und macht dies zum Kriterium eures Handelns! Es wäre eine sträfliche Verharmlosung, wenn dabei Geschwisterlichkeit, Nächstenliebe und Freundschaft zur bloß „private Kategorie“, zur romantischen Verzierung einer Wirklichkeit degradiert würde, die „eigentlich“ von ganz anderen „realistischen“ und „harten“ Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird. Ausgehend vom Gleichnis vom barmherzigen Samariter fordert Papst Franziskus von uns, Geschwisterlichkeit und Freundschaft als soziale, politische Kategorie zu begreifen, als Kategorie, die strukturbildend wirkmächtig zu werden hat.

Dies ist beste lateinamerikanische Tradition. Ein zentraler Begriff lateinamerikanischer Theologie, der viel Polemik provozierte und an der sich die Geister schieden, ist der der „strukturellen Sünde“. Doch diese Tradition kennt auch den Begriff der „strukturellen Gnade“. Nochmals als Imperativ formuliert: Lebt die Grundprinzipien des Evangeliums so, dass sich dies in „Strukturen der Gnade“ kristallisiert. Schafft Realitäten aus dem Geist Jesu, die die soziale und politische Realität definieren und die Welt effektiv und nachhaltig verändern; eine Welt, in der sich nicht diejenigen, die haben, gegen die verbarrikadieren müssen, die nicht haben; in der nicht nur Hymnen davon singen, dass alle Menschen zu Brüdern und Schwestern werden.

Es mag sein, dass dies alles für europäische Ohren viel zu utopisch und realitätsfremd klingt oder als unerträgliche Vereinfachung und Übertreibung provoziert. Und dennoch, Papst Franziskus mutet uns mit dieser Enzyklika nicht mehr und nicht weniger zu als die Übertreibungen Jesu und seiner Botschaft.

Prof. Dr. Martha Zechmeister