Verletzungen verschweigen, Vulneranz in den eigenen Reihen kaschieren

Schon bevor „Fratelli tutti“ publiziert wurde, reklamierten viele Stimmen den Titel, der Frauen im Unsichtbaren belässt. Oder sie unsichtbar macht. War der Streit nur eine Wortklauberei? Oder steckt mehr dahinter? Der fragwürdige Titel macht hellhörig für Ausschlussverfahren. Da Macht über Ausschließungen funktioniert, ist dies ein entscheidender Punkt. Beunruhigend ist das, was die Enzyklika verschweigt. Johanna Beck bringt es in einem Kommentar in „Die Zeit“ auf den Punkt:

„Während der Papst gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung bestimmter Gruppen anschreibt, schließt die Kirche zum Beispiel Homosexuelle und geschiedene Wiederverheiratete weiterhin aus. Aber besonders als Missbrauchsbetroffene schreit es förmlich in mir: Wie kann es sein, dass in einer Enzyklika aus dem Jahr 2020 viel über die Nachtseiten der Gesellschaft gesprochen, aber über die Nachtseiten der eigenen Institution geschwiegen wird?“1

Im Folgenden möchte ich das thematisieren, worüber die Enzyklika nicht spricht, worüber sie aber unbedingt sprechen müsste, wenn es ihr um Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft geht, die ja laut Titel das Thema sind.

1. Der sexuelle Missbrauch und seine Vertuschung

Was hat die „soziale Freundschaft“ in der katholischen Kirche in den letzten Jahren am meisten gestört und zerstört? Der sexuelle Missbrauch. Und seine Vertuschung. Was kommt in „Fratelli Tutti“ nicht vor? Der sexuelle Missbrauch. Und seine Vertuschung. Für die Menschen, die selbst zum Opfer der Gewalt geworden sind und sich unter Umständen seit Jahren um Gehör, Gerechtigkeit und das Ans-Licht-Bringen der Wahrheit bemühen, ist dies ein Schlag ins Gesicht. Ich kann Johanna Becks Empörung gut verstehen. Das ‚Thema‘ gilt wieder als nicht wichtig und wird aus dem Feld dessen, was zu besprechen ist, ausgegrenzt. Innerkirchlich ist dieser Punkt ein Skandal.

Aber das Verschweigen hat auch gesellschaftliche Konsequenzen, denn sexuelle Gewalt und ihre Vertuschung sind wahrlich nicht nur ein kirchliches Problem. In vielen Institutionen und Vereinen sind Kinder, Jugendliche und immer wieder auch Erwachsene betroffen. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern ist die Familie der erste Tatort. Auch viele Menschen, die auf der Flucht sind, erfahren sexualisierte Gewalt und furchtbare Traumatisierungen. Die Enzyklika hätte von der Kirche ausgehend auf diese Problematik schauen müssen, um zu sagen: Diese Fehler haben wir gemacht, ihr seht, wohin das führt, geradewegs in den Abgrund, deswegen engagiert euch gegen sexuelle Gewalt. Wir wissen, wie schwierig das ist, deswegen sprechen wir wieder und wieder darüber.

2. Gleichgeschlechtlich liebende Menschen – unbekannt?

„A good activist is still alive.”2

So formulierte es vor kurzem Ssenfuka Joanita Warren, die sich in einer Bewegung für lesbische und schwule Menschen engagiert. Sie kommt aus Uganda. Dort ist Homophobie gesellschaftlich so etabliert, dass die Ermordung gleichgeschlechtlich liebender Menschen kaum geahndet wird. Homophobie gefährdet Menschenleben. Dass diese Gefahr nicht nur weit weg auf einem anderen Kontinent lauert, zeigte sich im Oktober 2020 in Dresden, als ein 55-jähriger Mann aus Krefeld mit einem Messer ermordet wurde und sein 53-jähriger Partner schwere Verletzungen erlitt. Diese Tat ist eine schmerzliche Spitze, die auf den viel größeren Eisberg darunter verweist. Der Islamismus ist genauso homophob wie der christliche Fundamentalismus. Aber es sind nicht nur diese Extrempositionen. Die römisch-katholische Kirche beteiligt sich an den zahllosen Diskursen und Praktiken, die die soziale Vulnerabilität von schwulen und lesbischen Menschen extrem erhöhen – beispielsweise die Segensverweigerung für gleichgeschlechtliche Paare, die die Glaubenskongregation im März 2021 konstatierte. Inwiefern ist die katholische Kirche als ein Global Player der Homophobie mitverantwortlich an Verbrechen gegen gleichgeschlechtlich liebende Menschen? Dieser harten Frage müssen wir uns als Kirche stellen.

Gern empfehle ich in diesem Zusammenhang das Buch „Rückkehr nach Reims“ des französischen Soziologen Didier Eribon. Er beschreibt eindrücklich, wie schrecklich es ist, in einem schwulenfeindlichen Milieu aufzuwachsen, die vernichtenden Schimpfworte gegen Schwule lange schon zu kennen, sie sogar selbst verwendet zu haben – und dann schmerzlich einsehen zu müssen, dass man selbst damit gemeint ist.

„Schwul zu werden heißt, sich ins Feuer von Vokabeln zu stellen, die man tausendmal gehört hat und deren verletzende Kraft man schon lange kennt, weil man ihnen, noch bevor sie einen bewusst und tatsächlich treffen, potenziell längst ausgesetzt ist. Eine stigmatisierte Identität geht einem voraus […]  Es ist ein Begehren, das von einer Zerbrechlichkeit und einer bewussten, immer und überall verspürten Verletzlichkeit gekennzeichnet ist“.3

Obwohl demnach auch Homophobie ein hohes Hindernis bei der sozialen Freundschaft und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, wird sie in „Fratelli tutti“ nicht angesprochen. Dabei eröffnete die Enzyklika eine hervorragende Gelegenheit, die eigene Schuld zu bedenken, zu bekennen und zu sagen, wie man es in Zukunft besser machen wird. Homophobie als Fluchtgrund kann nicht thematisiert werden, wenn man vor der Homophobie in den eigenen Reihen den Mund verschließt.

3. Frauen und die Klaviatur der alten Leier

Zu Recht prangert die Enzyklika die Gewalt gegen Frauen an.

„23. Entsprechend sind die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer. Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus. In der Tat, ‚doppelt arm sind die Frauen, die Situationen der Ausschließung, der Misshandlung und der Gewalt erleiden, denn oft haben sie geringere Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen‘“

Allerdings klingt der Text so, als sei die Geringschätzung oder Missachtung von Frauen nur ein Problem der Gesellschaft, nicht aber der Kirche.

„24. … Die Verirrung kennt keine Grenzen, wenn man Frauen versklavt, die dann zur Abtreibung gezwungen werden. […] All das macht den Menschenhandel und andere aktuelle Formen der Sklaverei zu einem weltweiten Problem, das von der gesamten Menschheit ernstgenommen werden muss“.

Das ist sehr richtig. Aber an dieser Stelle müsste auch offen und ehrlich darüber gesprochen werden, dass auch viele katholische Ordensfrauen in den letzten Jahrzehnten durch Priester sexualisierte Gewalt, versklavende Lebensverhältnisse oder gar den Zwang zu einer Abtreibung erleiden mussten, dass dies der Kirchenführung in Rom bekannt war und dass sie nichts dagegen unternommen hat.4 Mit dem Finger auf andere zeigen, die Probleme in den eigenen Reihen jedoch zu verschweigen, ist eine zwar beliebte, aber keinesfalls christlich zu nennende Strategie.

Die Enzyklika folgt der alten Leier: Frauen sind Opfer von Gewalt; wir haben Mitleid mit diesen schwachen Wesen und hätten gern, dass die Gesellschaft sich anders verhält. Frauen, die nicht Opfer sind, scheinen keine besonders große Bedeutung für die „soziale Freundschaft“ zu haben, ihr diakonisches Engagement, ihre nicht nachlassende Aktivität für den Frieden und vieles mehr wird nicht erwähnt. Es zeugt von Geringschätzung, dass ein so wichtiger Text viele viele Männer, aber keine einzige Frau zitiert. Man(n) ist nicht interessiert.

Fazit

Das Verschwiegene schreit bekanntlich am lautesten. Wird hier vielleicht sogar unbewusst der Versuch unternommen, von der Gewaltsamkeit in der eigenen Institution abzulenken, indem man die Gewaltsamkeit der anderen herausstellt? Dieser Gedanke ist so furchtbar, dass ich ihn kaum zu denken wage. Das Verschweigen von „Fratelli tutti“ offenbart, was in der Kirche verfemt ist, noch immer und nach so langen Jahren der Auseinandersetzung: die Vulneranz, die in den eigenen Reihen praktiziert wird und die unzähligen Menschen Verletzungen zufügt. Warum sind sexueller Missbrauch und seine Vertuschung, globale Homophobie und Misogynie kein Thema? Auf diese Frage gibt es aus meiner Sicht nur eine Antwort: Weil sie in der Führung der römisch-katholischen Kirche zu tief verwurzelt sind.

Prof. Dr. Hildegund Keul


[1] www.zeit.de/2020/43/fratelli-tutti-frauen-papst-franziskus-neue-enzyklika-katholische-kirche/seite-2

[2] https://www.youtube.com/watch?v=2oFn3gWPrd8.

[3] Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. 11. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2016, 192/197.

[4] Zu diesem Themenkomplex siehe Barbara Haslbeck; Regina Heyder; Ute Leimgruber; Dorothee Sandherr-Klemp (Hg.): Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff 2020.