Digitalität als umfassende Kulturfrage

Verhältnisbestimmungen von Theologie und Digitalität

Im Raum der Kirchen wird über Digitalität gesprochen. Zunehmend! Das Thema hat spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie auch für die pastorale Arbeit, das liturgische Geschehen und das Selbstverständnis von Diözesen und Landeskirchen große Bedeutung. Denn gerade mit der Krise wurde deutlich, dass nur mit digitalen Medien gesellschaftliche Sichtbarkeit und seelsorgliche Kontaktflächen erhalten bleiben. Wer sichtbar ist, kann gemeindliche Netzwerke, seelsorgliche Beziehungen pflegen und Zusammenhalt von Menschen stärken, kann karitative Anliegen und sozialethische Themen ins Gespräch bringen, kann in Zeiten der Pandemie spirituelle Impulse anbieten und Liturgien gestalten. Wer hingegen nicht sichtbar ist, gilt schnell als inexistent. So wird das Interesse an Digitalität im Raum der Kirchen verständlich. Mit ihr ist vielerorts die Überwindung von Ressentiments verbunden, die sich hartnäckig in die kirchlichen Diskurse eingewachsen haben. Bis in die Gegenwart gelten Haupt- und Ehrenamtliche, die sich regelmäßig mit einem Statement filmen und eigene Social-Media-Accounts betreiben unter Kolleg*innen und Mitbrüdern im priesterlichen und bischöflichen Amt schnell als eitel und selbstverliebt. Die digitalen Medienformate werden gerne als oberflächliche Spielerei abgetan und mit Vorliebe wird vor den Gefahren von Fake News und Bubble-Bildung gewarnt. In all dem drückt sich die Tendenz aus, Digitalität lediglich als eine Medienfrage oder gleich als defizitäre Kommunikationsform zu betrachten. Das macht verständlich, weshalb auch in der Theologie die Beschäftigung mit Digitalität lange Zeit auf die Felder der Medienpädagogik und der Medienethik fokussiert war.

Es geht nicht nur um Medienfragen, es geht um Kulturfragen

Erst seit wenigen Jahren lässt sich ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse auch in Feldern der Systematischen Theologie, der Philosophie und der Pastoraltheologie beobachten. Damit bildet sich eine Weitung der Diskurse ab, die in anderen Gesellschaftsbereichen schon länger erfolgt und etwa in der Soziologie zu einem breiteren Diskurs geführt hat. Dazu gehört maßgeblich die Arbeit des Schweizer Soziologen Felix Stalder, der mit einem kleinen Büchlein die Rede von einer „Kultur der Digitalität“ geprägt hat. Das bedeutet nicht nur, dass Digitalität längst alle Bereiche und die hintersten Nischen der Gesellschaft durchdrungen hat, so dass mit Andreas Hepp von einer „deep mediatization“ zu sprechen ist. Mit dem Kulturbegriff kommen auch kommunikative Elemente in den Blick, von denen Effekte auf analoge Lebensbereiche entstehen. So erscheint eine Gegenüberstellung von digital und analog längst nicht mehr sinnvoll und gilt als unzureichend, um die komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen damit zu beschreiben. Stalder benennt als Grundformen einer „Kultur der Digitalität“ die drei Elemente Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Die Referentialität beschreibt die Praxis, alles ohne zeitliche und örtliche Begrenztheit miteinander in Bezug setzen zu können. Traditionen und Wissensbestände können fragmentiert und individuell neu konstelliert werden und es gibt keine Autorität, die dabei ein Reglement hüten könnte. Referentialität beschreibt das große Freiheitspotenzial, das sich häufig mit dem Demokratisierungsversprechen der Social Media verbindet. In dieser Bewegung geraten klassische Autoritäten und Institutionen in Bedrängnis, weil ihre Machtstrukturen unter spielerische Vorbehalte der Einzelnen gestellt und umgeformt werden. In diesen Prozessen entstehen neue Konstellationen von Interessen und Neigungen und neue Formen der Verbundenheit von Menschen. Dieses zweite Strukturelement der Gemeinschaftlichkeit dürfte gerade für die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften ein bislang unterschätztes und zu wenig gewürdigtes Phänomen sein. Denn digitale Formate bedeuten kein automatisches Abnehmen der sozialen Verbundenheit und der Gemeinschaftserfahrungen. Sie werden eher de-lokalisiert und in ihrer individuellen Ausgestaltung und Verbindlichkeit pluralisiert. Dass hier für die katholische Kirche mit ihrer jahrzehntelangen Dominanz der Communio-Ekklesiologie Anfragen und Destabilisierungen ergeben, dürfte auf der Hand liegen. Die dynamische Entwicklung der Gemeinschaftlichkeitskonzepte des Digitalen sind einer der Bereiche, in denen am deutlichsten die zugenommene Unübersichtlichkeit spätmoderner Gesellschaften zeigt. In ihnen wird ja nicht nur die Gegenüberstellung von analog und virtuell überschritten. Neue Unübersichtlichkeiten entstehen auch in den Neukonstellationen von Geschlechterverhältnissen, in der Vervielfältigung von berufsbiografischen Optionen oder der zunehmend als persönliche Aufgabe verstandenen Konstruktion der eigenen Identität. Wo alles von allen persönlich zu gestalten ist, entstehen nicht nur unüberschaubare Gestaltungsoptionen und Entscheidungszwänge. Es entsteht mit der tendenziell überfordernden Fülle auch Unübersichtlichkeiten und in ihnen Bedarf an neuer Struktur. Deshalb ist das dritte Element der Algorithmizität nicht nur als technischer Vorgang des redaktionellen Vorsortierens sondern als gesellschaftliche Rahmung zu verstehen. Insbesondere der Soziologe Armin Nassehi hat sich mit seiner Gesellschaftsanalyse „Muster“ diesem Bedarf an neuen Strukturen gewidmet. Während Algorithmen häufig im Verdacht der intransparenten Manipulation stehen, verdeutlicht Nassehi ihren unabdingbaren Wert zur Bearbeitung von Unübersichtlichkeit. Sie übernehmen damit eine Aufgabe, die in vordigitalen Gesellschaften Redaktionen, religiöse Autoritäten und andere Institutionen innehatten. Eine „Kultur der Digitalität“ bringt eigene Strukturen und Autoritäten hervor und zeigt damit, dass sie sich dynamisch als unabgeschlossenes Projekt entwickelt.

Kirchliche und theologische Effekte

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts und durch die wichtigen Impulse konnte sich in der katholischen Theologie das Ideal der Inkulturation etablieren. Kirchliche Lehre und christliche Glaubensüberzeugungen sind dabei nicht einfach aus ihrer eurozentrischen Prägung zu exportieren und als fertiges Gesamtkonstrukt anzubieten. Sie sind vielmehr als offene Lernprozesse mit den unterschiedlichen Kulturen in Austausch zu bringen und je neu und in lokalen und regionalen Spezifika zu entwickeln. Gerade das Analysekonzept einer „Kultur der Digitalität“ lädt dazu ein, das Ideal der Inkulturation auch auf diese digitalen Gesellschaftselemente des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Das hieße, das auch die zentralen theologischen Themen hier neu zu reformulieren sind: Wie lässt sich in diesem kulturellen Umfeld des Digitalen von Gott im christlichen Sinn sprechen? Wie lassen sie hier Sakramente als ekklesiale Grundstruktur verstehen? Mit welcher Kraft gestalten sich hier Ämter und geistliche Autoritäten aus? Und welche Bedeutung hat das für den christlichen Glauben zentrale Erinnern mit seinem Wechselspiel aus gnädigem Vergessen und kontinuierlichem Vergegenwärtigen in einem Umfeld, in dem bislang ungekanntem Ausmaß alles gespeichert und gnadenlos dem Vergessen entzogen werden kann?

Die hier nur anzudeutenden theologische Reformulierungen sind schon deshalb unumgänglich, weil es längst eigenständige Ansätze religionsförmiger Digitalität gibt, die mit Kraft öffentliche Diskurse mitgestalten. Das gilt für das Konzept der Data-Religion ebenso, wie für populärwissenschaftliche Ansätze eines Bestsellerautors Yuval Noah Harari. Er entwirft ein Religionskonzept des Digitalen, das ohne Transzendenz und personalen Gottesbegriff auskommt und damit eine auf ethische Diskurse fokussierte Gottesrede vertritt. Ihr fehlt insbesondere das Element der Fremdheit und notwendigen Irritation durch das personal-transzendente Gegenüber.

Offene Suchprozesse

Auf der Grundlage der ökumenischen Stellungnahme „Chancen und Risiken der Mediengesellschaft“, die 1997 gemeinsam von EKD und DBK für die großen Kirchen in Deutschland veröffentlicht wurden, entstanden auch im Rahmen der Bischofskonferenz weitergehende Auseinandersetzungen mit Fragen der Digitalität. Mit der Stellungnahme „Virtualität und Inszenierung“ (2011) und „Medienbildung und Teilhabegerechtigkeit“ (2016) wurden wichtige Fragestellungen einer „Kultur der Digitalität“ im Raum der katholischen Kirche aufgegriffen. Erkennbar ist dabei immer wieder auch ein sorgenvoller Blick auf Fragen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, der Datensicherheit, des Jugendschutzes oder demokratiegefährdender Kommunikationselemente. Neben den gesellschaftlichen und anthropologischen Reflexionen wird in den nächsten Jahren die kontextuelle Bearbeitung theologischer Grundfragen anstehen. Im Digitalen gibt es nicht nur Potenziale hinsichtlich der praktischen pastoralen Arbeit und der erforderlichen Weiterentwicklung kirchlicher Verkündigungsarbeit. Hier stehen auch sakramententheologische, eschatologische und ekklesiologische Reformulierungen an, die in ersten Ansätzen und theologischen Forschungsprojekten sichtbar werden. Das 2021 entstandene Kompendium „Theologie und Digitalität“ deutet diese Potenziale an, die sich in praktisch allen theologischen und philosophischen Disziplinen abzeichnen. Es ist zu hoffen, dass diese offenen Suchprozesse nicht von Ängstlichkeit sondern von Neugier und Entdeckungslust geprägt sein werden.

Wolfgang Beck

JProf. Dr. habil. Wolfgang Beck lehrt Pastoraltheologie und Homiletik an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Er leitet das „Studienprogramm Medien und öffentliche Kommunikation“ und engagiert sich als Sprecher des „Wort zum Sonntag“ in der ARD. Mitglied der Forschungsgruppe CONTOC-Churches Online in Times of Corona.

Literaturhinweise:

Stalder, Felix, Kultur der Digitalität, Berlin 2016.

Beck, Wolfgang / Nord, Ilona / Valentin, Joachim (Hg.), Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, Freiburg i.B. 2021.

Spiekermann, Sarah, Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert, München 2019.

Die Formulierung hinsichtlich geschlechtergerechter Sprache entsprechen den Wünschen des Autors.