Mehr Synodalität wagen?

Kirchenpolitik im Kontext asymmetrischer Tribalisierung

Papst Franziskus kommt mir vor wie ein kluger, alter Schachspieler. Er weiß, dass er nur wenige Jahre hat und denkt schon jetzt an den übernächsten Zug. Daher verändert er die Dinge auch nicht in negativ-selbstwidersprüchlicher Performanz mit einem autoritären Handstreich, sondern setzt vielmehr auf einen langsameren, vermutlich aber nachhaltigeren Weg. Dabei trifft er nur wenige Entscheidungen, verändert aber den kirchenamtlichen Weg, auf dem diese zustande kommen. Als Jesuit würde er sagen: die „manera de proceder“, die Art und Weise des Vorangehens. Er schlägt dazu einen synodalen Weg ein, um auf diesem Weg performativ die Wende zu einer synodaleren Kirche zu initiieren – und diese Weise des Miteinander-Vorangehens (von griech. syn-odos, der gemeinsame Weg) ist im Wortsinn radikal, denn sie geht an die Wurzel: Synodalität als ein Weg kirchlicher Selbstbekehrung zum Evangelium. Die Kirche darf ihrer eigenen Mission in der Welt nicht permanent selbst im Wege stehen. Anders als manche Gegner des Synodalen Wegs behaupten, gibt es daher auch keinen Gegensatz zwischen kirchlichen Reformthemen und Evangelisierung: Kirchenreform ist vielmehr Evangelisierung – und zwar kirchliche Selbstevangelisierung im Geiste Jesu.

Kirche als Societas Jesu – ein päpstliches Reformprogramm

Die synodale Kirche, die Papst Franziskus vorzuschweben scheint, erinnert an seine eigene Ordensgemeinschaft: an die Gesellschaft Jesu. Societas Jesu, jesuanische Weggemeinschaft der Nachfolge, das sind für ihn zunächst einmal alle Getauften. Sie sind Weggefährt:innen Jesu – und alle hierarchischen Differenzierungen sind in Bezug darauf prinzipiell sekundär. Aufgrund dieser jesusbewegten Gleichstufigkeit wird Synodalität zum Kernbegriff eines tiefgreifenden kirchlichen Reformprozesses. Dessen Notwendigkeit ergibt sich aus den systemischen Ursachen von sexuellem und geistlichem Machtmissbrauch, die in einer weitverbreiteten Haltung des Klerikalismus[1] kulminieren: „Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position innehat. Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz.“ (MHG-Studie) Papst Franziskus zieht dieselbe Verbindungslinie: „Zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen.“[2]

Für den Papst ist gelebte Synodalität ein probates „Gegenmittel“[3] gegen diesen Klerikalismus. Nicht zuletzt aus diesem Grund sagte er anlässlich der 50-Jahr-Feier der Einrichtung der Weltbischofssynode, er wolle eine „ganz und gar synodale Kirche“[4] – also eine Kirche, die nicht nur hin und wieder, sondern in ihrem innersten Wesen synodal ist. Deswegen hat er nun auch eine Weltsynode zum Thema der Synodalität einberufen. Diese ist als ein zweijähriger, mehrstufiger synodaler Weg konzipiert, auf dem das Synodenthema „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“ bis zum Oktober 2023 auf allen Ebenen der Kirche erörtert wird. Die Kirche steht damit vor einem echten Paradigmenwechsel: Synodalität oder Klerikalismus – das ist hier die Frage. Nathalie Becquart, die neue Untersekretärin der Bischofsynode, bringt die damit verbundene Chance auf den Punkt: „Die Synode kann uns helfen, aus einer klerikalen Kirche eine synodale zu machen.“[5]

Synodalität zielt auf eine dringend anstehende Selbstbefreiung der Kirche aus ihrem machtförmigen Klerikalismus. Von dorther können dann auch die vom Papst vorgeschlagenen Themenkreise Gemeinschaft („communio“), Teilhabe („participatio“) und Sendung („missio“) von den Hotspots innerkirchlicher Konflikte her diskursöffnend angegangen werden: Machtstrukturen, Priesteramt, Geschlechtergerechtigkeit und Sexualmoral. Es geht auch hier um eine jesuanische Praxis, die Menschen im Horizont der anbrechenden Gottes- und nicht Klerikerherrschaft über sich hinauswachsen lässt, sie zu sich und zueinander finden lässt, ihnen aufrechten Gang ermöglicht und ihr Leben zum Guten wendet. Erst vor diesem Hintergrund wird aus den drei Arbeitsbegriffen der Weltsynode eine synodale Gesamtvision mit innerem Zusammenhang: Es geht um eine evangeliumskonforme Weggemeinschaft mit Jesus, die ad intra eine echte Teilhabe aller in der Kirche und ad extra eine glaubwürdige Sendung in die Welt ermöglicht: „Als Kirche, die mit den Menschen ‚gemeinsam vorangeht’ […], hegen wir den Traum, dass die Wiederentdeckung […] des Dienstcharakters der Autorität auch der Zivilgesellschaft helfen kann, in Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit […].“[6]

Kirchenpolitik – ein theologisches Forschungsdesiderat

Franziskus ist ein heiliger alter Vogel, der offenkundig wirklich an das glaubt, was er sagt und schreibt. Bei aller berechtigten Kritik muss man das in Rechnung stellen, wenn man ihm gerecht werden will. Leider hat die implizite Ekklesiologie seines Synodalitätsbegriffs jedoch eine monophysitisch-spiritualistische Schlagseite, denn er unterschätzt in der „realitas complexa“ (LG 8) der Kirche deren „menschliches Element“ (LG 8): „Interpretiert man die Kirche nach den Kategorien des Konflikts – rechts und links, progressiv und traditionalistisch – […] man verrät ihr wahres Wesen […].“[7] Franziskus betont ihren geistlichen Charakter, unterschätzt aber ihr politisches Wesen als „sichtbare Versammlung“ (LG 8). Man muss den kirchenpolitischen Optimismus des Papstes keineswegs teilen, dass ihre „hierarchische[n] Organe“ (LG 8) den synodalen Geisterfahrungen der „geistlichen Gemeinschaft“ (LG 8) schon irgendwann folgen werden. Die „tribalistischen Spaltungen“[8], die der Papst in der Gesellschaft zurecht kritisiert, finden sich nämlich auch in der Kirche – was konkrete Kirchenpolitik zu einem eminent wichtigen theologischen Forschungsfeld macht: Das eine Volk Gottes zerfällt in mindestens zwölf Stämme mit sehr unterschiedlichem Kirchen- und Weltgefühl.

Auch in der Kirche erschwert das „Fehlen ehrlichen Dialogs in unserer öffentlichen Kultur“[9], einen „gemeinsamen Horizont zu schaffen, auf den wir uns zu bewegen“[10]. Und auch dort muss man lernen, mit Konflikten „so umzugehen, dass wir nicht in die Polarisierung abgleiten“[11] und stattdessen ein „neues Denken zulassen, das diese Spaltung übersteigen kann“[12]. Das wird jedoch nicht immer gelingen: „Die Unterscheidung inmitten eines Konfliktes erfordert es manchmal, gemeinsam unser Lager aufzuschlagen und darauf zu warten, bis der Himmel aufklart.“[13] Dabei kann man aus dem Kalten Krieg lernen und sich auf vertrauensbildende Maßnahmen verständigen. Oder aber aus der rechtspopulistischen Bedrohung offener Gesellschaften[14]. Auch gegen innerkirchliche Tribalisierung könnte es nämlich helfen, zu denen hinzugehen, die anders denken und fühlen und mit ihnen zu sprechen. Face to face. Sie nach ihrer Geschichte zu fragen und auch die eigene Geschichte zu erzählen. Auf Bauchgefühle nicht mit Kopfargumenten zu reagieren. Mehr Synodalität zu wagen[15], oder besser: überhaupt Synodalität zu wagen. Denn man kann das Ziel einer offenen Kirche (wie auch das einer offenen Gesellschaft) nicht mit geschlossenem Geist verteidigen.

Dabei trifft man dann jedoch auch in der Kirche nicht selten auf harte Rechte, die autoritäre, totalitäre und identitäre Extrempositionen vertreten und eine robuste Treue zum eigenen freien, offenen und alteritären Weg erfordern. Denn auch hier trifft jene „Hufeisentheorie“ einer symmetrischen Radikalisierung von Rechts und Links nicht zu, die einen kirchenpolitischen „Fehlschluss der goldenen Mitte“[16] nahelegen würde. Vielmehr lässt sich eine asymmetrische Tribalisierung auf der Seite von Rechtskatholik:innen beobachten, die sich ein kirchliches „Monopol der Wahrheitsauslegung“[17] anmaßen. Eine synodale Grundhaltung hingegen erfordert größere geistliche Reife, die in der Fähigkeit zu reflexiver Selbstdifferenz gründet: Ich kann mich zu mir selbst noch einmal verhalten. Und ich kann Gott auch tatsächlich größer sein lassen als die eigenen Positionen: „Das Ziel besteht […] darin, […] gemeinsam nach dem Willen Gottes zu suchen und dadurch die Unterschiede in Einklang zu bringen“[18]. Erst diese synodale Öffnung auf den Horizont eines je größeren Gottes ermöglicht eine contrapposizione, die die „Kontraste nicht auslöscht, sondern ihre Absolutsetzung verhindert“[19]. Das klingt wirklich gut. Schade ist nur: Es gibt Katholik:innen, mit denen man nicht einfach reden kann. Und es gibt leider auch Katholik:innen, mit denen man einfach nicht reden kann. Der Papst weiß dazu vermutlich auch so manche Geschichte zu erzählen…

Christian Bauer


[1] Vgl. demnächst das entsprechende Themenheft der Lebendigen Seelsorge (Heft 1-2022).

[2] Schreiben von Papst Franziskus an das Volk Gottes (20. August 2018), zu finden unter: w2.vatican.va/content/francesco/de/letters/2018/documents/papa-francesco_20180820_lettera-popolo-didio.html.

[3] Papst Franziskus, Ansprache zu Beginn der Jugendsynode (Online-Publikation ohne Seitenzahlen).

[4] Papst Franziskus, Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode (17. Oktober 2015); w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/october/documents/papa-francesco_20151017_50-anniversario-sinodo.html.

[5] www.globalsistersreport.org/news/people/ministry/news/q-sr-nathalie-becquart-upcoming-synod-could-turn-clerical-church-synodal.

[6] Papst Franziskus, Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode (Online-Publikation ohne Seitenzahlen).

[7] Papst Franziskus, Weihnachtsansprache vor der Römischen Kurie, http://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2020/december/documents/papa-francesco_20201221_curia-romana.html

[8] Papst Franziskus, Wage zu träumen! Mit Zuversicht aus der Krise, München (Kösel) 2020, 100.

[9] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 100.

[10] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 101.

[11] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 102.

[12] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 102.

[13] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 122.

[14] Vgl. C. Bauer, Heimat in einer offenen Welt? Ressourcen für ein spätmodernes Kohärenzgefühl, in: S. Strube (Hg.), Das Fremde akzeptieren – gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenwirken. Theologische Ansätze, Freiburg i. Br. (Herder) 2017, 153-168.

[15] Vgl. C. Bauer, Mehr Demokratie wagen? Erinnerungen an Willy Brandts erste Regierungserklärung, auf: Feinschwarz.net (28.10.2019).

[16] D.-P. Zorn, Logik für Demokraten. Eine Anleitung, Stuttgart (Klett-Cotta) 2017, 299.

[17] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 112.

[18] Papst Franziskus, Wage zu träumen, 108; 121.

[19] M. Borghesi, Jorge Mario Bergoglio. Una biografia intellettuale. Dialettica e mistica, Mailand (Jaca Book) 2018, 80.

Die Formulierungen hinsichtlich geschlechtergerechter Sprache entsprechen den Wünschen des Autors bzw. der Autorin.