Jüdische Friedhöfe – einige Charakteristika

Orte der Erinnerung in Franken

Hilde Marx war eine junge, aufstrebende deutsch-jüdische Lyrikerin und Journalistin, die 1911 in Bayreuth geboren worden war. In einem Text, der 1935 in der auflagenstärksten deutsch-jüdischen Wochenzeitung „C.-V. Zeitung“ veröffentlicht wurde, beschreibt sie stimmungsvoll und kenntnisreich den jüdischen Friedhof in Walsdorf.1 Walsdorf liegt heute im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken.

Aus dem Artikel spricht der besondere Charakter jüdischer Friedhöfe. Der Text von Hilde Marx beginnt wie folgt:

In der Nähe von Bamberg liegt Walsdorf und bei Walsdorf, außerhalb des Ortes, einer der ältesten jüdischen Friedhöfe Frankens. Sanft gewellt und in weiche Hügel aufgelockert ist hier echte fränkische Landschaft, und einer der Hügel trägt den Friedhof. Ringsum stehen dichte, hohe Wälder, eine Straße schlingt ihr Band in schöner Windung und neben ihr fließt ein Bach. Der ist jetzt, im Winter, dick gefroren und nur das leise Knacken des Eises klingt durch die Stille; manchmal knarren die Räder eines schweren Wagens vorbei, neben dem stumm ein Mann hergeht. Sanft ist Ruhe; das Dorf grüßt mit seinen Giebeldächern und seinem Kirchturm freundlich herüber und der Friedhof hat nur die Weite des Landes um sich und die Endlosigkeit des Himmels über sich.

Die typischen Eigenschaften des jüdischen Friedhofs resultieren zunächst aus der Lage der Begräbnisstätte fernab jedweder Besiedlung und Ortschaft. In Walsdorf findet sich der Friedhof, wie so häufig, auf einem Hügel. Merkmale wie die Abgeschiedenheit und die damit verbundene Weite, das Eingebettet-Sein in die Landschaft oder die mit der abseitigen Lage einhergehende Ruhe und Friedlichkeit: Sind das nicht bis heute Eigenschaften, die wir mit jüdischen Friedhöfen als romantisch-verwunschene, ja nahezu mystische Orte assoziieren? Macht das nicht die so typische, malerische Idylle für uns aus?2

Für uns als heutige ‚Friedhofs-Touristinnen‘ und ‚-Touristen‘ ist die Lage außerhalb der Ortschaften positiv besetzt. Für die ehemaligen, eigentlichen Nutzerinnen und Nutzer, also die Mitglieder der jüdischen Gemeinden, die den Friedhof zur Bestattung ihrer Toten einrichteten und betrieben, brachte die abgeschiedene Lage selbstredend ihre Nachteile mit sich. Lassen wir Hilde Marx erneut zu Wort kommen:

Erst im Jahre 1851 bekam die jüdische Gemeinde in Bamberg einen eigenen Friedhof. Bis dahin wurden die Toten aus Bamberg und den kleinen Orten der näheren und weiteren Umgebung unter großen Schwierigkeiten der Beförderung in Walsdorf begraben.

Die Verstorbenen mussten bei Wind und Wetter zum Friedhof gebracht werden. Der Weg war häufig weit und beschwerlich. Wenn möglich, wurde für die Überführung ein Leichenwagen angeschafft. Zudem war der Transport der Toten bis ins 19. Jahrhundert häufig mit Abgaben und Zöllen an die verschiedenen Herrschaften verbunden.

Im Text von Hilde Marx klingt ein weiterer Aspekt an, der typisch für jüdische Friedhöfe ist. Nach der Vertreibung von Juden und Jüdinnen aus den Städten im Mittelalter siedelte sich die deutsche Judenheit zwangsläufig auf dem Land an. Mehrere jüdische Gemeinden schlossen sich zu Verbänden, zu so genannten Landjudenschaften, zusammen, um ihre Interessen gegenüber der christlichen Obrigkeit besser vertreten zu können. Diese Landjudenschaften gründeten Verbandsfriedhöfe. Auf den Verbandsfriedhöfen wurden die Verstorbenen aus den umliegenden, aber auch aus weiter entfernten jüdischen Gemeinschaften bestattet. Das 19. Jahrhundert war für die deutsche Judenheit eine Zeit des großen Wandels. Zunächst brachte es für sie eine schrittweise rechtliche Gleichstellung mit sich. Viele Juden und Jüdinnen wanderten in die Neue Welt aus oder zogen vom Land in die Stadt um. Aufgrund der Ab- und Auswanderung lösten sich immer mehr jüdische Gemeinden auf dem Land auf, oder mehrere, kleiner gewordene Gemeinden schlossen sich zusammen. Aufgrund dieser Veränderungen wurden zusätzlich zu den bereits bestehenden Verbandsfriedhöfen neue Friedhöfe gegründet, die tendenziell städtisch bzw. kleinstädtisch geprägt und nicht mehr als Verbandsfriedhöfe organisiert waren.

In der Mitte des Friedhofs ragt eine riesige Eiche, deren Alter auf etwa 600 Jahre geschätzt wird. Hinter ihr steht das frühere Leichenhaus, ein heller fränkischer Fachwerkbau; einmal war es von Wächtern bewohnt, die dort die Toten wuschen und aufbahrten; heute ist es verlassen und nur zwei Tafeln mit hebräischen Inschriften sprechen noch von seiner Bestimmung.

Ein Taharahaus, also ein schlichtes Leichenhaus oder ab dem 19. Jahrhundert eine zuweilen repräsentative Trauerhalle, diente der rituellen Waschung und Vorbereitung des Leichnams für die Bestattung. Stellenweise fungierten zusätzliche Räume im Taharahaus als Wohnräume des Friedhofswächters. Wie beispielsweise in Walsdorf wurde das Gebäude vermutlich auch als Herberge für durchreisende jüdische Händler oder Bettler genutzt. Grundsätzlich ist die Waschung und Vorbereitung des Leichnams nicht an ein spezielles Gebäude wie das Taharahaus gebunden. Der Bau eines solchen Hauses ist in der jüdischen Tradition nicht die Regel. So sind diese zweckgebundenen Bauten typischerweise auf jüdischen Verbandsfriedhöfen in Süddeutschland zu finden. Denn es galt zu befürchten, dass ein auf die Bestattung bereits vorbereiteter Leichnam bei einem langen Weg bis zur Beisetzung, wie das bei Verbandsfriedhöfen häufig der Fall war, wieder unrein werden könnte. Folglich wurde die rituelle Waschung und Vorbereitung der Verstorbenen erst unmittelbar vor der Bestattung direkt auf dem Friedhof vorgenommen.3

Der Charakter jüdischer Friedhöfe ist selbstredend nicht nur von der Lage geprägt, sondern auch von den einzelnen Begräbnisstätten. Auf den Grabsteinen befinden sich hebräische Inschriften bzw. ab dem 19. Jahrhundert zunehmend auch deutschsprachige Beschriftungen. Die heutigen Besucherinnen und Besucher von jüdischen Friedhöfen sind in der Regel der hebräischen Sprache nicht kundig. Fasziniert sind sie auch meist weniger von den Inschriften, die sie aufgrund fehlender Sprachkenntnisse bzw. des hohen Grades der Verwitterung der Grabsteine nur selten entschlüsseln können. ‚Friedhofs-Touristinnen‘ und ‚-Touristen‘ interessieren sich vielmehr für die Symbole und Verzierungen, die sich bis heute auf den Grabsteinen erhalten haben.

Doch nicht nur die Lage der Begräbnisstätte und die Gestalt der Grabsteine in Form der hebräischen bzw. deutschen Inschrift sowie die aufgebrachten Ornamente und Symbole machen den typischen Charakter jüdischer Friedhöfe aus. Auch das allgemeine Erscheinungsbild, das aus halachischen, also religionsgesetzlichen Bestimmungen resultiert und sich von christlichen Traditionen maßgeblich unterscheidet, trägt zum Faszinosum jüdischer Friedhöfe bei. Häufig wird aus halachischen und praktisch-finanziellen Gründen der Natur freier Lauf gelassen, vor allem, wenn die Friedhöfe nicht mehr belegt werden. Durch die hoch gewachsenen Bäume, Büsche und Gräser muten die jüdischen Begräbnisstätten zuweilen verwunschen an. Gemäß der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, werden Gräber nicht aufgelassen oder neu belegt. Grabsteine dürfen nicht entfernt werden, bis zu dem Tag, an dem der Messias kommt. Besucht man einen Verstorbenen, legt man anstatt Blumen einen kleinen Stein auf das Grabmal. Nicht nur wir werden heute von dieser besonderen Stimmung gefesselt, auch Hilde Marx bringt in ihrem Artikel Mitte der 1930er Jahre ihre Faszination zum Ausdruck. Sie fasst einige Aspekte in Worte, die gleichsam zeitlos unsere Assoziationen mit jüdischen Friedhöfen auf den Punkt bringen. Mehr noch, die Journalistin interpretiert und lässt ihre alltagsphilosophischen Gedanken zum Thema Vergänglichkeit schweifen:

Es liegt eine tiefe Symbolik in dem Gesamtbild, das die Grabsteine bieten. Manche stehen noch aufrecht und fest im Grund der Erde, aber die meisten haben sich tief geneigt, als ob sie sich, nach der Weisheit der jüdischen Lehren, der Allgewalt der Schöpfung und dem ewigen Wandel der Welt beugten; manche liegen flach und schwer auf den Boden gedrückt; manche sind halb in ihm versunken und wecken Gedanken an die, die unter den Schritten der Zeit ganz in ihn eingegangen und eins geworden sind mit der Erde, aus der sie kamen und die sie wieder aufgenommen hat wie die Gebeine der Menschen, die in ihr zur letzten Ruhe gebracht wurden. Viele Gräber bezeichnet kein Stein mehr, und nur der darüberschreitende Fuß fühlt die Erhöhung der ehemals aufgeschütteten Erde.

(...) So verschieden Größe und Form der einzelnen Steine ist, bei allen herrscht die hohe Kunst der einfachen Gestaltung; vielfach hat die Zeit harte Furchen in den Stein gegraben wie das Gesicht eines alten Menschen; aber dann hat sie auch wieder eine milde Samthülle darumgelegt aus seinem grünem Moos.

Rebekka Denz ist verantwortlich für das laufende Projekt "Friedhofsbuch Kleinbardorf".

Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Judaistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

1 Hilde Marx: Alter jüdischer Friedhof in Franken. In: C.-V. Zeitung, H. 2, 10.01.1935, o.S. Online verfügbar bei Compact Memory als Bestandteil der Digitalen Sammlungen Judaica der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.

2 Dies ist ablesbar an mehreren Ausstellungen und Buchbänden, die ästhetische Fotografien, Zeichnungen usw. von jüdischen Friedhöfen fokussieren. Beispiele aus dem süddeutschen Raum sind z.B. die Ausstellungen der Fotografen Gerd Brander und Walter Hörnig aus Wertheim sowie die Bildbände von Lothar Mayer.

3 Ulrich Knufinke: Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland (=Schriften der BetTfila - Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa, Band 3, herausgegeben von Aliza Cohen-Mushlin und Harmen Thies), Petersberg 2007.