Buchempfehlung: Das Neue Testament – jüdisch erklärt

The Jewish Annotated New Testament (JANT) und die deutsche Ausgabe Das Neue Testament – jüdisch erklärt (NTJE) sind Ausdruck eines Paradigmenwechsels. Es gibt zwar schon seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit jüdische Beschäftigung mit dem Neuen Testament und insbesondere mit Jesus, aber sie war v.a. apologetisch und polemisch ausgerichtet. Eine konstruktivere Beschäftigung damit erfolgte im Zuge der jüdischen Emanzipation im 19. und verstärkt im 20. Jh. Doch dieses Buch, an dem 84 jüdische Wissenschaftler*innen mitgearbeitet haben, stellt eine neue Qualität dar: Diese Autor*innen verstehen das Neue Testament, die Basis des Christentums, fast durchweg als einen Ausdruck der jüdischen Tradition. Ähnlich wie Leo Baeck es im Jahr 1938, dem Jahr der Pogrome, schon einmal formuliert hat: „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“. Leo Baecks Buch wurde sogleich nach seinem Erscheinen durch die Gestapo beschlagnahmt und größtenteils vernichtet. Es konnte seinerzeit nicht die ihm gebührende Wirkung entfalten. Aber das Programm, das im Titel zum Ausdruck kommt, ist geblieben. Und im JANT/NTJE wird erstmals das gesamte NT durch jüdische Forscher*innen bearbeitet.

Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat im Jahr 2018 einen Vortrag publiziert unter dem Titel „Jesus und Judas. Ein Zwischenruf“. Zu Beginn verweist Amos Oz auf seinen Großonkel Joseph Klausner (1874-1958), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein bedeutendes wissenschaftliches Buch über „Jesus von Nazaret“ und sein nicht weniger bedeutsames mit dem Titel „Von Jesus zu Paulus“ geschrieben hat.

Amos Oz erinnert sich: „Als kleiner Junge besuchte ich eine äußerst traditionelle orthodoxe jüdische Schule in Jerusalem. Wir wurden angewiesen, jedes Mal, wenn wir an einer Kirche oder einem Kreuz vorübergingen, unsere Augen abzuwenden und in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Als Begründung hieß es: ‚Wir Juden haben seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden, wegen dieses Menschen gelitten.‘ Orthodoxe Juden nennen Jesus häufig nicht bei seinem Namen, sondern bezeichnen ihn abfällig als ‚diesen Menschen‘. Onkel Joseph aber sagte, das dürfe ich niemals tun: ‚Wann immer du eine Kirche oder ein Kreuz siehst, sieh ganz genau hin, denn Jesus war einer von uns, einer unserer großen Lehrer, einer unserer bedeutendsten Moralisten, einer unserer größten Visionäre.‘“1 Jesus war „einer von uns“.

Das NTJE enthält Einleitungen zu allen ntl. Büchern, fortlaufende Erläuterungen zu den einzelnen Versen, Info-Boxen zu Sachfragen des Textes, Essays mit breiteren Ausführungen zu bestimmten wichtigen Themen und einen Anhang mit Karten, Litaraturhinweisen etc.

In den Essays werden Fragestellungen aufgenommen wie diese:

Was haben jüdische Menschen damals als heilige Schriften verstanden und wie haben sie sie ausgelegt?
Hat Jesus etwas Neues gelehrt?
Wie verhalten sich die Äußerungen des Paulus zum Gesetz zu denen in anderen jüdischen Quellen aus der damaligen Zeit?
Hat der Glaube an den auferweckten Gekreuzigten, der an die Seite Gottes erhöht ist, den Rahmen gesprengt, was man sich als jüdischer Mensch damals vorstellen konnte?
Wie sieht es mit antijüdischen Aussagen im Neuen Testament aus und wie konnte es in der Geschichte zu verzerrten Wahrnehmungen kommen?
Wo müssen wir ansetzen, wenn wir sie überwinden wollen?

Die Antworten auf diese und viele andere Fragen leisten einen herausragenden Beitrag zu einem neuen Verständnis der Ursprünge des Christentums und seiner bleibenden Beziehung zum Judentum.

Der fruchtbare Dialog zwischen Juden und Christen – Christen und Juden hat in den letzten Jahrzehnten mit dazu beigetragen, dass beide Seiten gelernt haben, sich besser zu verstehen und zu respektieren. Das JANT/NTJE ist nicht nur selbst eine Frucht dieses Dialogs, sondern es liefert einen bedeutenden jüdischen Beitrag zur Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses und bietet zahlreiche Impulse für die Weiterentwicklung einer neuen Bestimmung des christlich-jüdischen Gesprächs. Die Beschäftigung mit dem Neuen Testament aus jüdischer Perspektive kann sowohl für Christen als auch für Juden von großer Bedeutung sein.

Prof. em. Dr. Wolfgang Kraus war Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes Fachrichtung Evangelische Theologie.  Er ist Mitherausgeber des Buches "Das Neue Testament jüdisch erklärt - in der Diskussion".

1 Amos Oz, Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Ostfildern 22018, 11f.