Aktuelle Herausforderungen der Friedensethik

Das gegenwärtige Paradigma der kirchlichen Friedensethik, das oft in Absetzung von der früheren Theorie des gerechten Kriegs als Lehre vom gerechten Frieden bezeichnet wird, geht von einem positiven, umfassenden Friedensverständnis aus, das an strukturellen Gewaltursachen ansetzt. Ein gerechter Friede ist gemäß diesem Ansatz nicht schon dort gegeben, wo kein Krieg herrscht. Vielmehr fordert das Ziel eines gerechten Friedens die ständige Einübung von Wegen der friedlichen Konfliktbeilegung, die einen erneuten Ausbruch kriegerischer Gewalt verhindern können. Als die wichtigsten Säulen eines gerechten Friedens gelten ein weltweiter Schutz der Menschenrechte, Entwicklungsförderung und Armutsbekämpfung (1. Säule), Demokratieförderung und Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in möglichst vielen Ländern der Welt (2. Säule), wirtschaftliche Zusammenarbeit und fairer Welthandel (3. Säule) sowie der Ausbau internationaler Organisationen bzw. Verflechtungen und die Errichtung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit (4. Säule). Neben der theoretischen Begründung dieses Ansatzes eines langfristigen Friedensaufbaus stellen sich der gegenwärtigen Friedensethik aktuelle Herausforderungen, die durch den Wandel der internationalen Weltordnung geprägt sind. Davon sollen zwei Fragenkomplexe herausgegriffen werden, die in der gegenwärtigen friedensethischen Diskussionslandschaft eine wichtige Rolle spielen. Die erste Herausforderung, die in der Militärplanung der Bundeswehr vorgesehene Beschaffung von Kampfdrohnen, hängt mit den neuen asymmetrischen Kriegen und der Abwehr terroristischer Gefahren zusammen, die zweite wird durch die drohenden Rückschläge in den Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und der russischen Föderation ausgelöst. Von ihr ist die Bundesrepublik Deutschland nicht nur wegen ihrer geopolitischen Lage in der Mitte Europas, sondern auch insofern berührt, als die zurückliegende Modernisierung der US-amerikanischen Nuklearwaffen in der Eiffel in Erinnerung ruft, dass diese nach wie vor ein essenzieller Bestandteil der westlichen Verteidigungsstrategie sind.

1. Der Einsatz autonomer Waffensysteme („Kampfdrohnen“)

Die verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesregierung sehen die Anschaffung autonomer Flugsysteme zu Beobachtungszwecken vor, lehnen aber den Einsatz unbemannter Waffensysteme, also sogenannte Kampfdrohnen, ab. Wie die als Vergeltungsmaßnahme nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center mithilfe von Drohnen durchgeführten gezielten Tötungsaktionen der USA und auch der israelischen Armee zeigen, gibt es dafür zwingende moralische und völkerrechtliche Gründe. Die geschätzt über 1000 Targeted-killing-Aktionen wurden vom US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama jeweils persönlich angeordnet. Das Verfahren der Zielauswahl unterlief damit das für die Demokratie konstitutive Prinzip der Gewaltenteilung; da sie ohne Gerichtsbeschluss durch eine exekutive Maßnahme vollzogen wurden, glichen diese Tötungsaktionen in moralischer und rechtlicher Hinsicht illegalen Hinrichtungen. Dies gilt in verstärktem Maß von den sogenannten Signature-Angriffen, bei denen verdächtige Handlungsmuster namentlich unbekannter mutmaßlicher Terroristen ausgewertet wurden. Auch die von Präsident Trump angeordnete Tötung des iranischen Generals Soleimani gleicht, wie die schwankende Begründung in einem persönlichen Twitter des Präsidenten ungewollt zugab, mehr einer außergerichtlichen Tötung als einer völkerrechtlich legitimen Selbstverteidigungsmaßnahme zur Abwehr unmittelbar bevorstehender Angriffe.

Da die US-Streitkräfte keine statistischen Angaben über diese Einsätze veröffentlichen, ist man auf die Zahlen von NGOs und humanitären Organisationen wir Human Right Watch und Amnesty International angewiesen. Sie berichten davon, dass vielfach auch unschuldige Personen von automatisierten, aus der Ferne angeordneten Tötungsaktionen erfasst wurden. Seriösen Quellen zufolge ist damit zu rechnen, dass es sich bei einem Großteil der durch angeblich von den Taliban gesteuerten Autobomben ums Leben gekommenen unschuldigen Menschen um Kollateralopfer sogenannter Signature-Tötungsaktionen handelt.

In diesem Zusammenhang ein kurzer Hinweis zur Begrifflichkeit: Der Ausdruck „Kollateralopfer“ wurde – leider! – von einem US-amerikanischen Theologen (Paul Ramsey) zur Illustration des Prinzips der Handlung mit Doppelwirkung und der nur indirekt gewollten Nebenwirkungen einer Handlung geprägt. Er sollte jedoch nicht zu „Kollateralschäden“ abgewandelt werden, da der ungewollte Tod unschuldiger Menschen niemals als bloßer Sachschaden verbucht werden darf. Auch ist die Denkfigur der Inkaufnahme ungewollter Nebeneffekte mit zahlreichen Problemen behaftet, die vor allem damit zusammenhängen, dass sich die Intention der militärischen Akteure von außen nicht eindeutig bewerten lässt. Von einer bloßen Hinnahme ziviler Opfer, die außerhalb des eigentlichen Handlungszieles liegen, lässt sich jedoch nur dann sprechen, wenn bei der Zielauswahl alle denkbaren Vorkehrungen getroffen wurden, die möglichen Nebenwirkungen, die Zivilpersonen in Mitleidenschaft ziehen könnten, so gering wie möglich zu halten. Sind derartige Schutzvorkehrungen nicht erkennbar, kann der vorhersehbare Tod Unschuldiger nicht achselzuckend als leider unvermeidbares Kollateralergebnis gerechtfertigt werden.

Zurück zur Frage, warum der Einsatz von Kampfdrohnen nicht in Betracht gezogen werden darf: Der militärische Nutzen des Einsatzes von Beobachtungsdrohnen spielt heute im Afghanistan-Konflikt eine große Rolle – etwa dann, wenn die Fahrstrecke eines Militärkonvois, die durch ein von Aufständischen besetztes Gebiet führt, zuvor durch Beobachtungsdrohnen auf einen möglichen Hinterhalt abgesucht wird. Warum sollte eine solche Drohnen, wenn sie eine bewaffnete feindliche Personengruppe ausmacht, diese nicht selbstgesteuert angreifen und damit dem Konvoi freies Geleit sichern können? Dies muss nicht nur wegen der Möglichkeit von Fehleinschätzungen des Systems, sondern noch aus einem anderen Grund ausgeschlossen bleiben. Zwar wird in der Debatte um autonome Waffensysteme auch das Argument vorgetragen, der Einsatz robotischer Entscheidungshilfen könnte menschliche Unzulänglichkeiten kompensieren und somit die Gefahr irrtümlicher Angriffsentscheidungen verringern. Doch bezweifeln Kritiker, dass eine automatisierte Zielauswahl durch Computersysteme jemals fähig sein könnte, die situativen Besonderheiten des Kampfgeschehens (z. B. Gesten der Ergebung oder die Absonderung eines Soldaten von seiner Gruppe) richtig zu deuten.

Das wichtigste Gegenargument gegen automatische Kampfdrohnen aber lautet: Über die Tötung eines Menschen dürfen niemals Algorithmen oder Computer, sondern nur Menschen entscheiden, die ihr Handeln nach ethischen und völkerrechtlichen Maßstäben rechtfertigen müssen und dafür zur Rechenschaft gezogen werden können. Ein Programmierer kann das Verhalten des von ihm entworfenen Waffensystems in möglichen Grenzbereichen nicht sicher vorhersehen. Der Befehlshaber, der es vor Ort anfordert oder aus großer Distanz in Gang setzt, kann seine Aktionen danach nicht mehr steuern oder unterbrechen. Erst recht kann das LAWS (Lethal Autonomous Weapons System) selbst für seine Fehler nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die ethisch und völkerrechtlich unannehmbare Konsequenz eines Einsatzes von LAWS wäre, dass es niemanden gäbe, der sich für Kriegsverbrechen verantwortlich fühlen müsste und für sie bestraft werden könnte.

Die Verantwortung für das Töten von Menschen würde diffus und könnte keinem der beteiligten menschlichen Verantwortungsträger eindeutig zugeschrieben werden. Der Bediener am letzten Ende der Entscheidungskette kann sich danach zwar Schuldvorwürfe machen und unter ihnen leiden, wenn es an irgendeiner Stelle des computergesteuerten Vorbereitungsablaufs zu Systemfehlern kam. Da er diesen Fehler häufig jedoch nicht rechtzeitig erkennen konnte, wird er für das fatale Endergebnis, dessen Eintreten er bei besserem Wissen vielleicht noch hätte abwenden können, nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das zugunsten von Kampfdrohnen bisweilen angeführte Argument, gerade autonome Waffensystem könnten die Einhaltung völkerrechtlicher Schutznormen viel präziser gewährleisten als menschliche Akteure, überzeugt angesichts der anonymen ineinandergreifenden Entscheidungsprozeduren dagegen nicht. Deshalb wären bewaffnete Drohnen, sollte sich die Bundeswehr eines Tages doch zu ihrer Anschaffung entschließen, moralisch nur dann akzeptabel, wenn sie – im Unterschied zu automatisierten selbstauslösenden Kampfdrohnen – von menschlichen Piloten auf der Erde gesteuert würden.

Die künftigen Kriegsszenarien, die in den militärischen Planungsstädten westlicher Länder, vor allem der USA, Israels und Großbritanniens vorbereitet werden, gehen noch weit über die von den USA im Mittleren Osten bereits praktizierten Einsatzformen hinaus. Während die Zielauswahl und die finale Auslösung von gezielten Tötungsaktionen bislang menschlichen Steuerungspersonen vorbehalten blieb, die ihre Arbeit oft mehrere tausend Kilometer entfernt vom Kampfgeschehen verrichteten, sprechen nach der militärischen Logik der Entwicklung selbstgesteuerter Waffensystem starke Gründe dafür, auch die Zielfestlegung und die Angriffsentscheidung dem Bordcomputer zu übertragen. Ein Vorteil autonom gesteuerter Waffensystem wird darin gesehen, dass sie auch dann aktionsfähig bleiben, wenn die Kommunikationsverbindung zu menschlichen Entscheidern abreißt und sie ihren selbsterteilten Auftrag erfolgreich zu Ende führen können. Zudem werden künftige Kriegsszenarien simuliert, in denen in den zu Verfügung stehenden Zeiträumen zwischen der Erkennung eines als bedrohlich eingestuften Flugobjektes und der Auslösung eines Gegenangriffs nur wenige Sekunden liegen.

Andere Zukunftsszenarien setzen auf die Möglichkeit eines großflächigen Einsatzes autonomer Waffensysteme, durch den ein areal occupation regime, ein Luftbesatzungsregime über feindlichem Gebiet, weiträumig errichtet werden kann, das ohne Bodentruppen auskommt. Weil lange Stehzeiten über den Einsatzräumen aufrechterhalten bleiben, ohne menschliche Piloten Gefahren aussetzen zu müssen, können weite Kampfräume militärisch überwacht und feindliche Kombattanten in Schach gehalten werden. Derartige militärische Planspiele muten gegenwärtig noch wie Horrorvorstellungen aus Science-Fiction-Romanen an. Doch könnten sie, wenn in der nächsten Generation unbemannter Flugzeuge die notwendigen logistischen und waffentechnologischen Voraussetzungen bereitstehen, schneller als befürchtet Realität werden.

Sobald ein Land dazu übergeht, selbstgesteuerte Waffensysteme in großem Stil einzusetzen oder mit ihrem Einsatz zu drohen, werden andere Länder, um die waffentechnologische Parität wiederherzustellen, in kurzer Zeit nachziehen. Jedenfalls stellt die Entwicklung autonomer selbstgesteuerter Waffensysteme ein vorrangiges Ziel der militärischen Zukunftsforschung dar, an dem in vielen Ländern mit Hochdruck gearbeitet wird. Leider stehen die Chancen für ein völkerrechtliches Verbot analog der Ottawa-Konvention zum Verbot von Anti-Personen-Minen oder der Streubomben-Konvention von Oslo schlecht; zumindest sind die Verhandlungen ins Stocken geraten. Seit der Feststellung eines UN-Sonderberichterstatters aus dem Jahr 2013, niemand wisse, wer bewaffnete Drohnen entwickle und beschaffe, sind auf dem Weg zu einem weltweiten Verbot autonomer Waffensysteme leider keine Fortschritte zu verzeichnen.

Ein aufgewogenes Urteil muss aber auch den Grund nennen, der für die Nutzung unbemannter Flugsysteme zu Beobachtungszwecken spricht. Der entscheidende ethisch wie völkerrechtlich unbestreitbare Vorzug liegt darin, dass sie ihren Beobachtungsauftrag ohne Gefahr für Leib und Leben der eigenen Soldaten ausführen können. Der Hinweis auf die Fürsorgepflicht gegenüber den eigenen Soldaten gibt den Ausschlag, zumal keine ernsthaften Gegengründe, solange sich der Auftrag auf Beobachtungsfunktionen beschränkt, erkennbar sind. Sicherheitsgewinn und Risikominimierung für die eigene Truppe geben im Falle reiner Beobachtungsdrohnen den Ausschlag.

2. Die Krise der nuklearen Abrüstung

Die Einschätzung, nach der Auflösung der militärischen Blockbildung drohten dem Weltfrieden keine ernsthaften Gefahren mehr, stützte sich vor allem auf eine Hoffnung: Die Gefahr eines versehentlichen Einsatzes von Nuklearwaffen, die während des Kalten Krieges die Welt mehrfach an den Rand einer Katastrophe gebracht hatte, schien durch die internationalen Verträge zur Nichtverbreitung von Atomwaffen dauerhaft gebannt zu sein. Zudem hatten sich die damaligen fünf Nuklearmächte China, Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA darin auf einen Abbau ihrer Atomwaffenpotenziale verpflichtet. Obwohl die Zahl der atomaren Sprengköpfe noch immer dazu ausreicht, die Bedingungen menschlicher Zivilisation zu zerstören, wird diese Möglichkeit im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr als eine reale Bedrohung empfunden. Ein verbreitetes Sicherheitsgefühl und ein rational unerklärliches Vertrauen in die Stabilität des Weltfriedens verhindern eine nüchterne Analyse der Gefahren, die von den vorhandenen Nuklearwaffen trotz des Atomwaffensperrvertrages und der vereinbarten Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung noch immer ausgehen. Erst die Aufkündigung der Verträge über die Mittelstreckenraketen durch die USA und ihre vorangegangene Verletzung durch die Russische Föderation haben die Öffentlichkeit in der jüngsten Vergangenheit aus ihrer trügerischen Sicherheit aufgeschreckt.

Tatsächlich sind die Hoffnungen, dass mit dem Ende der bipolaren Weltordnung und der Entspannung des Ost-West-Konflikts das Zeitalter einer weltweiten Denuklearisierung mit dem Fernziel einer atomwaffenfreien Welt angebrochen sei, nicht in Erfüllung gegangen. Weder waren die bisherigen Nuklearmächte bereit, den Weg der Abrüstung konsequent zu Ende zu gehen, noch gelang es, das Hinzutreten neuer Nuklearwaffenstaaten (Indien, Israel, Pakistan, Iran und Nordkorea) zu verhindern – ganz zu schweigen von der Gefahr, dass atomare Waffensysteme in die Hand terroristischer Gruppen gelangen könnten.

Während die NATO durch die Modernisierung ihrer vorhandenen Atomwaffen das Signal aussendet, dass sie diese als festen Bestandteil ihrer künftigen Militärplanung ansieht, erhöht sich der Druck der Weltöffentlichkeit auf die Nuklearstaaten. Die „Internationale Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen“ erhielt im Jahr 2017 den Friedensnobelpreis. Sie vertritt fast 500 NGOs und war maßgeblich an der Ausarbeitung eines Anti-Atomwaffen-Vertrags beteiligt, der im Sommer desselben Jahres in New York feierlich unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag sieht ein vollständiges Verbot von Atomwaffen vor, auf das sich 122 der 193 Mitglieder der Vereinten Nationen verständigt hatten. Ausdrücklich verbietet der Vertrag sowohl den Einsatz von Atomwaffen als auch ihre Herstellung, ihren Besitz, ihre Lagerung und ihre Stationierung. Diese Formulierung deutet an, dass bei der Ausgestaltung des Vertrages die subtilen ethischen Debatten noch weiterwirkten, die während des Kalten Kriegs darüber geführt wurden, ob der Besitz von Atomwaffen und die Drohung mit ihnen ethisch vertretbar sein können, wenn ihr Einsatz unter keinen Bedingungen legitimierbar ist.

Im Grunde enthält der neue Anti-Atomwaffen-Vertrag nur eine Bekräftigung von Art. 6 des Nichtverbreitungsvertrages, in dem sich die damaligen Nuklearstaaten bereits verbindlich auf die Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale verpflichtet hatten. Dem neuen Vertrag liegt die Hoffnung zugrunde, dass eine formelle Verbotsnorm, die das Ziel eines Global Zeros für die gesamte Staatengemeinschaft festschreibt, ein wirksames Mittel sein könne, um das Ziel einer atomwaffenfreien Welt zu erreichen. Ende 2017 bekannte sich auch Papst Franziskus gegenüber den Teilnehmern einer internationalen Nuklear-Konferenz im Vatikan zu dieser Erwartung. Er bekräftigte dabei die Notwendigkeit eines umfassenden Verbots von Atomwaffen, das nicht erst ihren Einsatz, sondern bereits ihren Besitz und die Drohung mit ihnen einschließt. Dies ist eine bedeutsame Korrektur der kirchlichen Friedenslehre. Implizit widerrief Papst Franziskus nämlich die Bereitschaft zu einer provisorischen moralischen Duldung der Abschreckung, die sein Vorgänger Johannes Paul II. im Jahr 1982 vor der UNO ausgesprochen hatte.

Tatsächlich bleibt der Anti-Atomwaffen-Vertrag bislang eine Geste des guten Willens, dem allenfalls eine symbolische Bedeutung zukommt. Denn so beeindruckend die Zahl der Unterzeichnerstaaten ist – zu ihnen gehören nur diejenigen Mitglieder der Staatengemeinschaft, die ohnehin keine Atomwaffen besitzen. Alle Regierungen der Länder, die derzeit offiziell über sie verfügen, darunter auch diejenigen sämtlicher NATO-Mitgliedsstaaten, blieben der feierlichen Unterzeichnungszeremonie fern. Auch die Bundesrepublik Deutschland boykottierte aus Solidarität mit der NATO den feierlichen Akt. Zwar bejaht die offizielle Verteidigungsdoktrin der Bundesrepublik das Ziel einer atomwaffenfreien Welt, doch gebietet es die Staatsräson, die Nuklearstaaten des Militärbündnisses, unter deren Schutzschirm sie steht, nicht zu desavouieren.

Die Zweifel, ob die Vision einer atomwaffenfreien Welt in der gegenwärtigen Weltordnung in absehbarer Zeit zu verwirklichen sein wird, speisen sich aus drei Überlegungen: Erstens werden die beiden großen Nuklearstaaten, also die USA und die russische Föderation, vertragswidrig einen Restbestand von Atomwaffen aus Misstrauen gegenüber den Absichten der anderen Seite und aus Zweifeln gegenüber der Zuverlässigkeit des Verifikationsregimes behalten. Aufseiten der USA stützt sich dieses Misstrauen auf die ernüchternde Erfahrung, die der Westen mit der Außenpolitik Russlands unter Präsident Putin machte. Anders als noch vor zwei Jahrzehnten, auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik, ist Russland heute kein Partner in der Suche nach einer gemeinsamen Friedensordnung mehr. Wie das russische Vorgehen auf der  Krim, in der Ostukraine und im Syrienkrieg zeigt, ist es erneut zum aggressiven weltpolitischen Gegenspieler des Westens geworden.

Zweitens sind auch die kleineren Nuklearstaaten, darunter Frankreich, Großbritannien und Israel, nicht bereit, auf ihren Status als Atommächte zu verzichten. Denn in der gegenwärtigen Weltordnung verspricht der Besitz von Atomwaffen, die deshalb auch als singuläre politische Waffen bezeichnet werden, Einfluss, Ansehen und Macht in der internationalen Staatengemeinschaft.

Schließlich ist das Ziel einer dauerhaft atomwaffenfreien Welt, nachdem diese Waffen einmal vorhanden sind, aus einem dritten Grund nahezu unerreichbar. Selbst wenn alle der noch vorhandenen 15.000 atomaren Sprengköpfe einzeln verschrottet würden, blieben das Wissen um die technologische Fähigkeit zurück, in Zeiten wachsender internationaler Spannungen in kürzester Zeit erneut derartige Waffen herstellen zu können. Fachleute gehen davon aus, dass dazu ein Zeitraum von 14 Tagen ausreichen würde.

Trotz aller berechtigter Skepsis gegenüber der Vision einer atomwaffenfreien Welt bietet der Blick zurück in die Geschichte der Abrüstungsverhandlungen und der Non-Proliferationsbemühungen nicht nur Grund zu Enttäuschungen. Der Nichtverbreitungsvertrag konnte zwar sein Ziel, alle anderen Staaten außer den damaligen fünf Nuklearstaaten vom Zugang zu Atomwaffen fernzuhalten, nicht erreichen. Dennoch gelang es, den Kreis der Nuklearmächte zu begrenzen. Er ist heute kleiner, als zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrags von vielen befürchtet wurde. Hervorzuheben ist das Beispiel Südafrikas, das den Kreis der Atommächte freiwillig wieder verließ, da es sich von diesen überaus kostspieligen Waffen keine realen politischen Vorteile außer dem symbolischen Zuwachs am Ansehen und Einfluss erhoffte. Auch bestätigten die Erfahrungen, die die Weltgemeinschaft mit dem Beinahe-Atomwaffenstaat Iran bis zur Kündigung des Wiener Abkommens durch den gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten machte, die Hoffnung, dieses Land könnte zugunsten der Option auf die friedliche Nutzung der Kernenergie dauerhaft auf seine diesbezüglichen militärischen Ambitionen verzichten. Jedenfalls attestierte die internationale Atomaufsichtsbehörde in Wien dem Iran regelmäßig, dass er sich an alle Vereinbarungen des Wiener Abkommens halte und die Fähigkeit zur Urananreicherung und zur Produktion von waffenfähigem Plutonium aufgegeben habe. Solche kleinen Schritte, die nur blanker Unverstand wieder aufs Spiel setzen kann, sind für das große Ziel, den Weltfrieden zu sichern, ebenso wichtig wie die Orientierung an der vorerst unerreichbaren Vision einer atomwaffenfreien Welt.

Ausblick: Kleine Schritte auf dem Weg zu einem stabilen und gerechten Frieden

Denn wie alles politische Handeln besteht auch Friedenspolitik, also die konkreten Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, den Frieden zu bewahren und für die Zukunft zu sichern, in der Kunst des Möglichen. Für einen habituellen Pessimismus besteht auch in einer multipolaren Weltordnung, die noch auf dem Weg zu einer globalen Sicherheitsarchitektur ist, kein Anlass. Schon immer erforderte die Arbeit für den Frieden Mut und visionäre Kraft, vor allem aber Geduld, langen Atem, Ausdauer und die Bereitschaft, trotz mancher Rückschläge auf dem Weg der kleinen Schritte voranzugehen.

Überblickt man die Geschichte der Menschheit in der Zeit, die wir die Moderne nennen, können wir einen doppelten Vorgang konstatieren, der unumkehrbar erscheint: Die Globalisierung der Welt und die Beschleunigung der Entwicklung. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, in der er die weltweite Anerkennung der Menschenrechte, die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie den freien Welthandel zu den Grundlagen des Friedens erklärte, spricht der Philosoph Immanuel Kant davon, dass eine Rechtsverletzung, die an einer Stelle der Welt den Friedenszustand stört, überall auf der Erde gefühlt werde[1]. Er verwies damit nicht nur auf die Interpendenz der Auswirkungen von Kriegsursachen und Gewaltkonflikten, die wir in Zeiten des internationalen Terrorismus und der wirtschaftlichen Verflechtung deutlicher als je zuvor erfahren. Kant hatte auch die moralische Einheit der Menschheit im Blick, als er von einem Weltbürgerrecht sprach, das überall auf der Erde für jeden Menschen gilt. Dieser Gedanke führt im gegenwärtigen Völkerrecht zu der Auffassung, dass nicht mehr souveräne Staaten, sondern schutzbedürftige menschliche Individuen die eigentlichen Völkerrechtssubjekte und Rechtsträger einer internationalen Friedensordnung sind, deren Schutzbedürftigkeit die internationale Staatengemeinschaft durchzusetzen habe.

Auch den zweiten, mit der Globalisierung der Welt und der zunehmenden Verflechtung ihrer Probleme einhergehenden Vorgang, die unumkehrbare Beschleunigung dieses Prozesses, sah Kant hellsichtig voraus, wobei er allerdings seine Ambivalenz verkannte. Am Ende seiner Friedensschrift heißt es: „So ist der ewige Friede (…) keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (…) beständig näherkommt.“[2] Zur Begründung dieser Hoffnung verwies Kant darauf, dass „die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden.“[3]

Betrachtet man diese Prognose in der Rückschau auf die zurückliegende Entwicklung, so zeigt sich, dass die Abstände zwischen den Epochenzäsuren tatsächlich immer geringer wurden. Die Periode der Einhegung des Kriegs durch das klassische europäische Völkerrecht dauerte vom Westfälischen Frieden bis zu den großen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Trotz der zahlreichen Erbfolge- und Staatenbildungskriegen lässt sie sich wenigsten im Blick auf den europäischen Kontinent als eine einigermaßen stabile Friedensordnung kennzeichnen, die immer wieder von begrenzten Kriegen unterbrochen wurde. Die Epoche des Kalten Kriegs, die nach der völkerrechtlichen Neuordnung der Welt 300 Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss um das Jahr 1948 begann und zu der erwähnten organisierten Friedlosigkeit einer bipolaren Weltordnung führte, dauerte keine 50 Jahre mehr, bis sie von der Phase der Entspannungspolitik abgelöst wurde, in der der Weltfriede zum Greifen nahe schien. Doch nur ein Vierteljahrhundert später erscheint der Weltfriede von neuem bedroht, nicht nur in den Krisengebieten der südlichen Hemisphäre, sondern auch an den Rändern Europas.

Kants Vorstellung, dass die Menschheit sich in einem linearen Fortschrittsprozess der Idee des ewigen Friedens annähert, wich damit der Einsicht, dass sich die Aufgabe der Bewahrung und Sicherung des Friedens in jeder Epoche der Staatengemeinschaft unter jeweils gewandelten Bedingungen neu stellt. Dazu braucht es regulative Ideen, die dem politischen Handeln Orientierung geben können. In der Vergangenheit spielten die Idee einer Einhegung des Friedens, das Konzept der Friedenssicherung durch wechselseitige Abschreckung und die Sicherheitsarchitektur einer globalen Partnerschaft zwischen den ehemaligen Machtblöcken in Ost und West die Rolle solcher regulativer Ideen. Heute gilt das Leitbild eines gerechten Friedens, der auf die Anerkennung der Menschenrechte, die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie auf eine globale Entwicklungszusammenarbeit unter dem Vorzeichen gerechter Welthandelsbedingungen gegründet ist, als Kurzformel der kirchlichen Friedenslehre. Solche weitgefassten Friedenskonzeptionen sind, auch wenn ihnen ein utopisches Moment innewohnt, dennoch unerlässlich, um das Ziel eines langfristigen und dauerhaften Friedensaufbaus nicht aus den Augen zu verlieren. Enttäuschungsfest ist die Hoffnung auf einen solchen stabilen und gerechten Frieden jedoch nur, wenn sie sich bewusst bleibt, dass der Weg zu diesem Ziel aus kleinen Schritten besteht und immer wieder von Rückschlägen bedroht ist.

Der Autor dieses Artikels, Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff, ist Inhaber des Lehrstuhls Moraltheologie an der Universität Freiburg und Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Gremien im Rahmen von Ethik und Moral.


[1] Schriften zur Anthropologie, Werkausgabe Band XI., 216.

[2] Schriften zur Anthropologie, Werkausgabe Band XI., 251.

[3] Ebd.