Distanz und Schutz
Theologisch-ethische Anmerkungen angesichts der Corona-Pandemie
Die Corona-Pandemie hat das Lebensgefühl der Menschen tief verändert. Wie nachhaltig diese Veränderung sich auswirken wird, das lässt sich kaum sagen. Aber durch die Ausbreitung des Virus und die damit verbundenen Konsequenzen für die Gesellschaft kommen wir – wie in einer traumatischen Erinnerung – in Kontakt mit der Angst, welche früher einen sicher wesentlichen Teil des Lebens ausgemacht hat. Es ist eine tiefe Unsicherheit, ob uns die Natur als Quelle von Nahrung und Freude Lebensbasis ist oder ob sie mit ihrer bedrohenden und wilden Seite feindlich gesinnt ist. Sich zwanglos mit Freunden zu treffen, in Sicherheit und Geborgenheit zu sein, das sind Grundbedürfnisse des Lebens. Demgegenüber spüren wir zurzeit noch einmal den doppelten Boden möglicher Hilflosigkeit gegenüber Mächten, die wir nicht beeinflussen können. Es ist, als wenn längst vergessene Gefühle wieder nach oben kommen. Vielleicht ist es ja morgen schon wieder vergessen, wie ein Albtraum. Im Augenblick lässt die Entwicklung ein wenig Raum für Entspannung und Gelassenheit. Und es ist die Hoffnung, dass diese Situation anhält.
Das Schlimme ist, dass von dieser Atmosphäre gerade die Beziehung zwischen den Menschen betroffen ist. Weil es Menschen sind, durch die der Virus übertragen wird, erscheint der Nächste als das mögliche Potenzial der Ansteckung, wie der heimliche Agent des Unheils. Das pervertiert die unbefangene Zuwendung. Nicht nur die Natur erscheint als abweisend und fremd. Sondern gerade der Andere, die Menschen um uns. Wir werden aufgefordert, „Abstand zu halten“, zu Social distancing ermahnt. Was als äußere Distanz gemeint ist, schlägt allzu schnell auch in eine innere Isolation um. Ist es kälter im Umgang miteinander geworden? „Distanzierter“ zu sein beschreibt eigentlich nicht eine äußere Haltung, sondern eine innere Erfahrung.
Mit der Ausbreitung von Krankheit und Einsamkeit ist in alten theologischen Sprachformen der Zorn Gottes verbunden worden. Verlust der gesundheitlichen Kraft und sozialen Verbundenheit wurde als Spiegel der Gottverlassenheit erlebt. Und es hat zu Stigmatisierung, ja Vernichtung von Menschen geführt, die nach dem Verständnis des Glaubens von diesem Bann getroffen waren: aus der Integrität der Lebensquellen und der Gemeinschaft herausgefallen zu sein.
Demgegenüber ist die moderne Gesellschaft Gott sei Dank gewohnt, einer Bedrohung, wie sie die Menschheit im Augenblick erlebt, mit Naturwissenschaft, vernünftiger sozialer Organisation und medizinischen Mitteln zu begegnen. Auch wenn manches noch unklar ist, geht es darum, das Vertrauen in Lösungskompetenz, wissenschaftliche Forschung und besonnene Reaktion nicht zu verlieren.
Eine solche Haltung ist auch aus Sicht der Theologie angemessen und notwendig. Es gibt keinen Grund, an der Bewältigung der Krise zu verzweifeln. Und doch ist es sinnvoll, angesichts der Unberechenbarkeit des Lebens auch um die Hilfe Gottes zu bitten. Nicht in Konkurrenz zu den Anstrengungen, die jetzt gefordert sind. Aber als Antwort auf die Frage, ob es das Schicksal gut mit uns meint oder wir ihm ausgeliefert sind.
Der christliche Glaube bietet einen Horizont des Vertrauens an. Weil Gott „ein Freund des Lebens“ (Weish 11,26) ist, sind wir von dieser Zusage auch jetzt getragen. Und von diesem Zutrauen sind wir dazu befreit, nüchtern und besonnen zu handeln, den Blick füreinander nicht zu verlieren, sondern solidarisch die Belastungen zu tragen und an der Überwindung der Herausforderungen mitzuarbeiten. Die Zeichen, wie sie die katholische Kirche kennt, die aktive Nachbarschaftshilfe und Caritas, das Gebet füreinander, den Segen, mit dem wir uns gegenseitig den Wunsch zusprechen behütet zu sein, bis hin zu den Sakramenten, in denen Gott besonders nahe ist: Immer geht es darum spüren zu können, dass wir einen tieferen Schutz erfahren dürfen. Die Feier der Eucharistie, die aufgrund des Versammlungsverbotes stellvertretend vom Priester im kleinen Rahmen auch jetzt gefeiert wird, an der Gläubige über die Medien indirekt teilnehmen können – und sei es in Gedanken, ja durch die innere Verbundenheit der ganzen Kirche –, macht die Realität dieses Schutzes tief zugänglich: Jesu Vertrauen in Gott und seine unbedingte Solidarität gerade mit den Isolierten und Kranken, die er mit dem Leben bezahlt hat, werden darin unmittelbar gegenwärtig, das, worum er zu beten gelehrt hat: die „Erlösung vom Bösen“ – auch als Bitte um die endgültige Überwindung der „Corona-Krise“.
Der Autor dieses Artikels, Prof. P. Dr. Josef Römelt, ist Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der Universität Erfurt.