500 Jahre Reformation

Anmerkungen zum Luther-Jahr

Joachim Schmiedl

Zehn Jahre Vorbereitung hat sich die evangelische Kirche in Deutschland gegönnt. Gott sei Dank besteht die Ernte der Luther-Dekade nicht nur in Lutherwegen, Luthersocken und Playmobil-Figuren. Überraschendes tut sich auch in der Ökumene. Papst Franziskus setzt symbolhafte Handlungen: Der evangelischen Gemeinde in Rom schenkt er einen Abendmahlskelch, in Lund wird das Reformationsjahr mit einem ökumenischen Gottesdienst eröffnet – der Papst in liturgischer Umarmung mit einer lutherischen Bischöfin, an der Gregoriana zeigt ein wissenschaftlicher Kongress auf, dass wir in der Sakramententheologie doch nicht so weit voneinander entfernt sind, dass nicht in absehbarer Zeit eine Einigung in den Fragen von Amt und Abendmahl erreicht werden könne. „Die Wirklichkeit ist mehr als die Idee“ (Papst Franziskus in „Evangelii gaudium“) – ideologische Verfestigungen auf beiden Seiten der Christenheit scheinen sich zu lösen. Diese Ereignisse laden ein, einen neuen Blick auf Martin Luther und seinen Weg als Glaubender und Reformer zu richten.

Martin Luther (1483-1546), ganz verwurzelt in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, beeinflusst von seinem Ordensvater Augustinus und den Mystikern des 13. Jahrhunderts, war ein Kind seiner Zeit. Angst und Schrecken befielen ihn, wenn er an das Jüngste Gericht dachte. Nur mit tiefer Ergriffenheit konnte er die Eucharistie feiern. „Gerechtigkeit“ Gottes konnte er nur aktiv verstehen: Gott ist gerecht und richtet den Menschen nach seinen Taten. Erst nach langem Studium des Römerbriefs kam ihm die Erkenntnis: Gott fordert keine menschliche Gerechtigkeit, sondern er macht den Menschen gerecht. Ich werde von Gott gerechtfertigt, weil ich glaube, nicht weil ich Leistungen vollbringe. Diese urkatholische Erkenntnis ist die Grundlage aller lutherischen Bekenntnisse. Sie ist urbiblisch und findet sich in der Botschaft Jesu an vielen Stellen wieder, etwa wenn er die Ehebrecherin nicht verurteilt, sondern ihr vergibt (Joh 8). Man kann sich nur wundern, dass die Kirchen fast 500 Jahre brauchten, bis sie 1999 in Augsburg zu dieser Rechtfertigungsbotschaft eine Gemeinsame Erklärung veröffentlichen konnten.

 

Diese reformatorische Entdeckung, die das Konzil von Trient mit anderen Worten im Grunde nachvollzog, traf auf eine Praxis, die Luther heftig kritisierte. Es ging um den Ablass, eine im Hochmittelalter entstandene Form des Nachlasses zeitlicher Sündenstrafen. Die Sünden der Menschen selbst werden durch die Beichte vergeben, doch es bleibt ein Rest zurück, der den Menschen weiterhin von der vollen Begegnung mit Gott trennt. In einem Bild ausgedrückt: Wenn ein Ehemann sich nach einem Streit wieder mit seiner Frau versöhnt und sie sich gegenseitig die Verzeihung zugesprochen haben, hilft ein Blumenstrauß oder die Einladung zu einem guten Abendessen, noch die letzten Reste von Distanzierung zu überwinden. Eigentlich eine gute Idee, solange ein solcher Ablass auf einer spirituellen Ebene blieb und etwa mit einer Wallfahrt verbunden war. Immer noch akzeptabel, wenn ein Ablass mit einer Geldspende zugunsten eines öffentlichen Bauprojekts, etwa einer Brücke, verknüpft wurde. Nicht mehr akzeptabel, wenn damit private Schulden abgetragen werden sollten, die durch einen offenen Bruch des kirchlichen Rechts entstanden waren. So im Fall Albrechts von Brandenburg, der eine dritte Diözese als Bischof übernehmen wollte, die dafür notwendigen Dispensen an Rom nicht zahlen konnte und dafür mit der Hälfte des Erlöses aus dem Ablass für den Neubau der Peterskirche in Rom seine Schulden an die Firma Fugger bezahlen durfte. Ein riesiger Skandal, den Luther theologisch aufgearbeitet wissen wollte.

So kamen in den Jahren nach 1517 mehrere Konfliktlinien zusammen: Politisch ging es um die Macht im Reich, zumal nach dem Kaiserwechsel von Maximilian zu Karl V. Innerkirchlich wurde Luther als Ketzer verurteilt, von vielen jedoch als Reformator einer reformbedürftigen Institution gefeiert. Und theologisch entfaltete Luther in den Jahren bis 1525 sein theologisches Programm, das dann zu einer neuen christlichen Konfession führte. Mit seinen drei großen Schriften von 1520 waren die theologischen Koordinaten der lutherischen Reformation festgezurrt: Zentral ist die Rechtfertigung aus dem Glauben allein (sola fide), durch Gottes Gnade (sola gratia), nicht durch gute Werke. Wohl sind diese der Erweis eines Lebens aus dem Glauben. Die christologische Zentrierung zeigt sich in der Berufung auf die Bibel als einzige und letzte Glaubensinstanz (sola scriptura). Im nominalistischen Sinn, nach dem es keine Universalbegriffe, sondern nur individuelle Einzeldinge geben könne, sah Luther die Kirche nicht mehr als „mystischen Leib Christi“, sondern in ihrer Reformbedürftigkeit, die aber nicht durch das Papsttum, sondern nur durch eine repräsentative Konzilsversammlung gelöst werden könne. Der Appell an ein Konzil war gleichzeitig die Absage an den Papst, der für Luther zum Antichrist mutierte.

„Alles Luther“ war die Reformation nur in den ersten Jahren. Ab 1525 traten andere Akteure in den Vordergrund, Philipp Melanchthon, die Städte und die Fürsten. Ein Protest gegen den Reichstagsabschied 1529 brachte den Namen „Protestanten“ ein, die Vorlage einer Bekenntnisschrift auf dem Augsburger Reichstag 1530, die sog. „Confessio Augustana“, kann als Gründungsdokument einer neuen Konfession bezeichnet werden. In der Folgezeit kultivierte jede Konfession ihre Eigenheiten. Das betraf den Alltag in der Betonung von Unterscheidungsriten und sprachlichen Ausschließungen. Auf protestantischer Seite pluralisierten sich die Konfessionen. Zu lutherisch gesellten sich zwinglianisch, calvinistisch und anglikanisch. Im 17. Jahrhundert konnte man auch methodistisch oder baptistisch werden. Die Vielfalt der Möglichkeiten, protestantisch zu sein, kann man am besten in den USA studieren.

Wege der Ökumene

Am Anfang des 20. Jahrhunderts begann eine innerprotestantische ökumenische Bewegung, die 1948 zur Gründung des Weltrats der Kirchen führte. Zu der heute „Ökumenischer Rat der Kirchen“ genannten Organisation gehören 348 Kirchen protestantischer, orthodoxer und freikirchlicher Tradition. Die katholische Kirche lehnte anfangs jede Beteiligung an ökumenischen Treffen ab. Die Erfahrung der gemeinsamen Unterdrückung durch den Nationalsozialismus führte in Deutschland die Konfessionen wieder näher zueinander. Das Zweite Vatikanische Konzil ging den Weg der Ökumene weiter. Beobachter aus den nichtkatholischen christlichen Kirchen nahmen am Konzil teil und brachten selbst wichtige Vorschläge ein. Das Dekret über den Ökumenismus hat dann den Weg in die Gegenwart und Zukunft geöffnet. Drei Aspekte möchte ich besonders hervorheben:

  • Die gemeinsame Heilige Schrift: Aufgrund der Betonung der Bibel durch die Reformatoren wurde der Heiligen Schrift bei den Katholiken lange Zeit eher wenig Beachtung gezollt. Es gibt kein Buch, das so oft auf dem Index der verbotenen Bücher stand wie die Bibel in ihren verschiedenen Übersetzungen. Erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist eine regelmäßige Lektüre der Bibel auch unter Katholiken wieder üblicher geworden. Die Liturgiereform hat zudem dafür gesorgt, dass im Gottesdienst mehr Texte zu Gehör gebracht werden. Gemeinsame Bibellektüre im Sinnedes Bibelteilens gehört zum Standardrepertoire kirchlicher Bildungsarbeit.
  • Die gemeinsame Taufe: Luther und die anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts ließen nur Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten. Die Beichte wurde noch bis zum 19. Jahrhundert praktiziert, dann trat sie in den Hintergrund, um heute wieder neu entdeckt zu werden. Das Konzil betonte die Bedeutung der Taufe, nicht nur als Sakrament des Babyalters, sondern als Hilfe, um in den christlichen Glauben hineinwachsen zu können: „Die Taufe bildet also das sakramentale Band der Einheit, das zwischen allen herrscht, die durch es wiedergeboren sind. Dennoch ist die Taufe an sich lediglich ein Anfang und Beginn, da sie ja ganz darauf hinzielt, die Fülle des Lebens in Christus zu erlangen. Deshalb wird die Taufe hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des Glaubens, auf die vollständige Einverleibung in die Einrichtung des Heils, wie Christus selbst sie gewollt hat, schließlich auf die vollständige Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft.“ (Unitatis Redintegratio 22,2) 2007 haben elf Kirchen in Magdeburg eine Erklärung über die wechselseitige Anerkennung der Taufe unterzeichnet.
  • Die geistliche Ökumene: Das ist ein wichtiger Teil der Ökumene. „Diese Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens sind zusammen mit den privaten und öffentlichen Bittgebeten für die Einheit der Christen als Seele der ganzen ökumenischen Bewegung zu erachten und können zu Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden.“ (Unitatis Redintegratio 8,1) Über die Jahrhunderte hinweg waren das spirituelle Leben und die geistliche Erfahrung die Momente, an denen sich Katholiken und Protestanten am ehesten verstehen konnten. Im „Gotteslob“ stehen Lieder von Martin Luther und protestantischen Pietisten. Beispiele eines geistlichen Ökumenismus sind etwa die ökumenische Gemeinschaft von Taizé oder die Initiative „Miteinander für Europa“. Der alljährlich stattfindende Weltgebetstag der Frauen ist die älteste institutionalisierte Form geistlicher Ökumene, die für eine gemeinsame Zukunft der christlichen Konfessionen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat und haben wird.

Wie geht es weiter? Das Jahr 2017 wird nicht mehr in konfessioneller Antipathie und Gegnerschaft gefeiert, sondern in großer Sympathie und Gemeinsamkeit. Die Idee eines Christusjahres stammt ebenso wie die gemeinsame Pilgerfahrt ins Heilige Land und der Versöhnungsgottesdienst von katholischer Seite und wurde von den Protestanten positiv aufgegriffen. Dass Christus im Mittelpunkt steht, entspricht dem lutherischen „solus Christus“ und ist für Katholiken ebenfalls selbstverständlich.Nicht einigen konnte man sich auf eine gemeinsame Bibelübersetzung, so dass die revidierte Lutherbibel und die katholische Einheitsübersetzung die zentrale Position der Heiligen Schrift – „sola scriptura“ – betonen, die Pluralität der Verstehensmöglichkeiten aber beibehalten wird.

Zeichen des Dialogs und der Gemeinschaft

Papst Franziskus hat mit dem Besuch beim Lutherischen Weltbund am 31. Oktober 2016 ein deutliches Zeichen des Dialogs und der Gemeinschaft gesetzt. Wenige Tage danach wies er vor der Vollversammlung des Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen darauf hin, dass Einheit „nicht die Frucht unserer menschlichen Anstrengungen oder das von kirchlicher Diplomatie geschaffene Produkt, sondern sie ist ein Geschenk von oben“. Auch sei sie keine Gleichförmigkeit: „Die verschiedenen theologischen, liturgischen, geistlichen und kirchenrechtlichen Traditionen, die sich in der christlichen Welt entwickelt haben, sind ein Reichtum und keine Bedrohung für die Einheit der Kirche, wenn sie unverfälscht in der Apostolischen Tradition verwurzelt sind. Diese Verschiedenheit beseitigen zu wollen bedeutet, gegen den Heiligen Geist zu handeln, der wirkt, indem er die Gemeinschaft der Gläubigen mit unterschiedlichen Gaben bereichert.“ Das scheint mir ein wichtiger Ansatz zu sein. Denn auch wenn viele die theologischen Unterschiede nicht mehr verstehen, so haben sich doch in 500 Jahren sehr differenzierte Kulturen, Lebensstile und Glaubensformen herausgebildet, die alle ihren Reichtum haben und nicht ohne Verlust zurechtgestutzt werden dürfen. Das gilt für Gebete und Lieder, für eine freiere oder gebundenere Form des Gottesdienstes, für das Engagement in Politik, Gesellschaft und Dienst am Nächsten. Dann kann man auch ruhiger die noch offenen theologischen Fragen angehen. Sie kreisen vor allem um das kirchliche Amt, genauer um die Sakramentalität der Diakonen-, Priester- und Bischofsweihe und die Unterschiede zu einer Ordination. Davon abhängig ist wiederum das Verständnis von Eucharistie, näherhin die Gegenwart Christi in den Zeichen von Brot und Wein, wie sie in der Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Christi in die Mitte der Gemeinde geholt wird und dort bleibend anwesend ist. Dass eine Verständigung darüber nicht so einfach ist, zeigt sich auch daran, dass zwischen den lutherischen und den reformierten Kirchen erst seit 1973 Abendmahlsgemeinschaft herrscht. Und vielleicht bringt das Jahr 2017 noch eine überraschende Beschleunigung der Ökumene mit sich.