Amoris laetitia

Ein Schreiben, das für Furore sorgt

Thomas Schüller

Eine erste Zwischenbilanz

Mit Spannung wurde das nachsynodale Schreiben von Papst Franziskus zu den beiden Bischofssynoden 2014 und 2015 zum Thema Ehe und Familie erwartet. Seit es veröffentlicht ist, reißt die zum Teil kontroverse Diskussion nicht ab und seine Inhalte werden sehr disparat wahrgenommen und gedeutet.[1] Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Franziskus die öffentlich vorher lautstark artikulierten Erwartungen beider Lager – schematisch gesprochen: die Reformer und die Bewahrer – schlicht nicht bedient hat, sondern mit den Stichworten Gradualität und Unterscheidung der Geister bzw. der Situationen auf der Ebene der konkreten Begegnung mit den Menschen, die in Ehen und Familien mit ihren geglückten, aber auch gescheiterten Momenten leben, antwortet.[2] Und dies mit einem spürbaren Realitätssinn für das tatsächliche Leben in Ehen und Familien. Über die fast schon zwanghaft fixierte Frage nach dem Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen oder einer Aufwertung gleichgeschlechtlicher, dauerhafter Lebenspartnerschaften, wie sie vor allem in Europa zu beobachten ist, sind viele Beobachter nicht in diese Dimensionen des Schreibens vorgedrungen. Ein letzter Punkt: auch kirchenrechtlich finden wir keine geänderten Normen zu den zwei angesprochenen Reizthemen[3], scheinbar bleibt alles beim Alten.[4] Das Dictum von Kardinal Kasper: „Der Papst ändert keine Lehre, und doch ändert er alles“[5], verdeutlicht aber, dass es um einen evangeliumsgemäßen Umgang gerade mit dem Scheitern in zwischenmenschlichen Beziehungen geht, das begleitet und heilend in der konkreten Seelsorge wahrgenommen und nicht vorschnell verurteilt werden soll.

Grundlegende Vergewisserungen

Die Diskussionen auf der Bischofssynode 2014/2015 haben nachdrücklich gezeigt, wie unterschiedlich die Lebenssituationen von Eheleuten und Familien in den verschiedenen Teilen der Welt sind. In dieser Situation von Rom aus in Form lehramtlicher Festlegungen zentrale Weisungen zu erteilen, ist nicht das primäre Anliegen von Franziskus. So stellt er zu Beginn fest: „Indem ich daran erinnere, dass die Zeit mehr wert ist als der Raum, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen.“ (AL Nr. 3) Damit zieht Franziskus die in Evangelii gaudium grundgelegte Spur nach einer heilsamen Dezentralisierung fort. Dort hatte der Papst in der Nr. 16 ausgeführt: „Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen. Es ist nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „Dezentralisierung“ voranzuschreiten.“[6]

Dieser bewusste Verzicht auf päpstlich angeordnete Weisungen - auch in moraltheologischen Fragen - schafft Raum und Platz für ortskirchlich passgenaue Lösungen, nimmt das ekklesiologisch bedeutsame Prinzip der Subsidiarität ernst und die Diözesanbischöfe vor Ort in die Pflicht. So hat beispielsweise die Argentinische Bischofskonferenz eine pastorale Handreichung zum Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, auch in der Frage der möglichen Zulassung zur Eucharistie im Einzelfall erlassen, die ausdrücklich die Bestätigung durch Franziskus erfahren hat. Die Deutsche Bischofskonferenz legt einige Konkretisierungen zu dem päpstlichen Schreiben vor,[7] ein eigenes Hirtenwort der deutschen Bischöfe wird es aber nicht geben.[8]

Grundlegend sind auch die Ausführungen zum Gewissen der Gläubigen. Franziskus rehabilitiert die katholische Gewissenslehre, wenn er in AL Nr. 37  selbstkritisch feststellt und anschließend fordert: „Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle  Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.“ Papst Johannes Paul II. hat einmal vom Heiligen Geist als Geschenk der Wahrheit des Gewissens gesprochen. Dies bedeutet, dass den Gläubigen, wenn sie mit dem Beistand des Heiligen Geistes, der ihnen in Taufe und Firmung zugesagt ist, eine Gewissensentscheidung treffen, auf der Spur des Evangeliums unverbrüchlich in der zuvorkommenden Treue Gottes bleiben. Sie haben ihrem Gewissen, auch wenn es irrend und/oder gegen ein lehramtliches Gebot zu stehen scheint, zu folgen. Aufgabe der Seelsorger und Seelsorgerinnen und bei Kindern und Jugendlichen zusätzlich der Eltern ist es, für eine entsprechende Gewissensbildung zu sorgen.

Ehe und Sexualität – gute Gaben Gottes

Während sich die Konzilsväter auf dem II. Vatikanum mit der Beschreibung der Ehe als Bund und der Aufwertung des Gattenwohls mühsam aus der Umklammerung der augustinischen Fixierung der ehelichen Sexualität auf den vorrangigen Ehezweck, der Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft, zu lösen versuchten, weist Papst Franziskus der ehelichen Sexualität an sich einen hohen Wert zu, ohne sie sofort schon wieder im Sinne der Prokreation zu instrumentalisieren und zu vereinnahmen: „Er ordnet die Paarbeziehung der Elternschaft, die partnerschaftliche Sexualität ihrer Zeugungsfunktion (AL 124) vor, insofern er betont, dass die Ehe nicht nur der Familiengründung und -erweiterung diene, sondern zunächst Raum für die Liebe (caritas), die „Zärtlichkeit der Freundschaft (amicitia) und die erotische Leidenschaft“ (AL 120; vgl. 125) sei.“[9] Darum kann dieser Papst auch ganz unbefangen davon sprechen, dass junge Eheleute den Tag mit einem Kuss beginnen sollten (AL 226).

Gradualität

Schon zu Beginn der Beratungen auf der Bischofssynode hatte der Wiener Kardinal Christoph Schönborn an das alte Prinzip der Gradualität erinnert, das helfen könne, den Prozesscharakter, das Werden menschlicher Beziehungen zu beobachten wie auch ohne Vorbehalte zensurierender Art auf komplexe Lebensverhältnisse zu schauen. Franziskus verwendet dieses Prinzip zum einen phänomenologisch, um biografische Eheprozesse, gerade die, die scheitern, zu beobachten, aber auch pastoral und pädagogisch, um Begleitung der Gläubigen zu ermöglichen. So fordert er auf „die konstitutiven Elemente in jenen Situationen zu würdigen, die noch nicht oder nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Lehre von der Ehe sind“ (AL 292). Gemeint sind also die unverheirateten Paare wie auch die, die nach einer ersten kirchenrechtlich gültigen nun in einer zweiten dauerhaften Verbindung, oft einer zivilen Ehe, leben. Dieses Prinzip bietet den Einzelnen Hilfen an, um eine gereifte Gewissensentscheidung zu treffen, den Seelsorgern und Seelsorgerinnen hingegen gibt es eine Hilfe, die verschiedenen pastoralen Situationen sorgfältig zu unterscheiden und Hilfe anzubieten. „Entscheidend sei nicht der kalte Abgleich der Situation an der immer und allezeit  für jeden und jede gleich geltenden Doktrin, sondern die Wahrnehmung der tatsächlich „möglichen Wege der Antwort auf Gott und des Wachstums inmitten der Begrenzungen“ (AL 305) der jeweiligen Situation eines Paares.“[10]

Und wenn es schief geht?

Natürlich kommt man an Amoris laetitia nicht vorbei, ohne nicht doch einen Blick auf das Dauerthema der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Eucharistie zu werfen. Wie gesagt: Neue kirchenrechtliche Normen erlässt Franziskus nicht, so dass es bei der grundlegenden Bestimmung des c. 915 CIC, die offenkundige, hartnäckige, verharrende schwere Sünder vom Empfang der Eucharistie ausschließt, bleibt. Bis dato war die römische Sichtweise die, dass wiederverheiratete Geschiedene per se unter diese Gruppe von Sündern fallen. Klaus Lüdicke sieht mit der Aussage von Franziskus in AL 305[11] Hinweise gegeben, dass nicht immer aufgrund der konkreten Fallumstände bei den sog. „irregulären ehelichen Situationen“ bei praktizierter Geschlechtsgemeinschaft ipso facto auch schwere Sünde vorliege. Wenn dies so sei, entfalle der Grund für den Kommunionausschluss und betroffene Personen könnten sich vor ihrem Gewissen richtig disponiert sehen (c. 916 CIC) und nach entsprechendem Gespräch mit ihrem Seelsorger zum Tisch des Herrn hinzuzutreten.[12]

Fazit

Mit seinem Schreiben Amoris laetitia erweist sich Papst Franziskus als ausgewiesener Theologe und verständiger Seelsorger, der die Sorgen, Nöte und Freuden der Menschen kennt und der in grundsätzlichen Fragen wie dem katholischen Gewissensverständnis oder der Bedeutung der Diözesen für eigenständige Lösungen schwieriger Fragen vor Ort (Stichworte Dezentralisierung und Subsidiarität) der katholischen Lehre in ihrer Fülle wieder zu ihrem Recht verhilft. Allerdings wird zu beobachten sein, inwiefern in den skizzierten Problemfeldern tatsächlich weltkirchlich eine auf das Wohl der Gläubigen ausgerichtete Praxis einzieht oder nicht. Vieles scheint vom einzelnen Diözesanbischof vor Ort, wenn nicht sogar vom Pfarrer vor Ort, abhängig zu sein. Ob tatsächlich bei allen Klerikern bereits die Botschaft des Papstes angekommen ist, dass auch sie als Sünder Diener des Volkes und nicht Vollstrecker einer ohnehin längst zerbrochenen Pastoralmacht über Herzen, Köpfe und Schlafzimmer der Gläubigen sind, wird erst die Zukunft zeigen.

Der Autor, Univ.-Prof. Dr. Thomas Schüller, leitet das Institut für Kanonisches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

 


[1] Vgl. Christian Geyer, Kann denn Liebe Sünde sein?, in: FAZ vom 07.09.2016, 9, der im Untertitel davon spricht, das nach Humane vitae wohl kein anderes päpstliches Schreiben so kontrovers diskutiert werde wie Amoris laetitia.

[2] Vgl. Julia Knop, Jan Loffeld (Hg.), Ganz familiar. Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte, Regensburg 2016.

[3] Vgl. AL Nr. 300: „Wenn man die zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen – wie jene, die wir vorhin erwähnten – berücksichtigt, kann man verstehen, dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte.“

[4] Vgl. K. Lüdicke, Amoris laetitia – ein kirchenrechtlicher Blick, www.uni-muenster.de/imperia/md/content/fb2/d-praktischetheologie/kanonischesrecht/amoris_laetitia_kirchenrechtlich-1.pdf; eingesehen am 21.09.2016.

[5] Das Zitat steht in folgendem Kontext: „Der Papst ändert keine einzige Lehre, und doch ändert er alles. Die Kirche soll die Menschen nicht verurteilen. Sie soll auf die Umstände schauen, sie im Licht des Evangeliums unterscheiden und dann die Menschen mit Barmherzigkeit begleiten. Die Barmherzigkeit hebt die Lehre nicht auf, sie wendet die Lehre evangeliumsgemäß an. Damit belebt Franziskus eine alte Tradition neu, die auf Thomas von Aquin zurückgeht. Gegen die katholizistischen Engführungen will er wahre Katholizität zurückgewinnen. Dazu gehört auch die Freiheit des Gewissens. Die Kirche kann das Gewissen nicht ersetzen, sie muss es ermutigen.“ Vgl. www.zeit.de/2016/17/vatikan-kardinal-walter-kasper-amoris-laetitia/seite-2, eingesehen am 21.09.2016.

[6] Vgl. w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html; eingesehen am 21.09.2016.

[7] Vgl. http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2016/2016-180-Pressebericht-Herbst-VV.pdf, 26.09.2016; einen eigenen Weg hat bereits der Bischof von Passau mit seinem „Brief an die Priester im Nachgang zum päpstlichen Schreiben „Amoris laetitia“ v. 20.06.2016 beschritten, vgl. http://stefan-oster.de/brief-an-die-priester-im-nachgang-zum-paepstlichen-schreiben-amoris-laetitia/, eingesehen am 26.09.2016.

[8] http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/kein-hirtenwort-zu-amoris-laetitia, eingesehen am 26.09.2016.

[9] J. Knop, Amoris laetitia – Über die Liebe in der Familie, in: dies./J. Loffeld (Hg.), Ganz familiär (Anm. 2), 13-19, 19.

[10] Ebd., 31.

[11] Vgl. Al 305, an die sich die ominöse Fußnote 351 anschließt, die für viel Diskussionsstoff gesorgt hat: „Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.[351]“

[12] Vgl. Anm. 4.