Der Synodale Weg: ein Zwischenfazit

Als „einen Schritt ins Offene“ beschreibt Claudia Lücking-Michel in der Juni-Ausgabe der Herder-Korrespondenz die Konstruktion des Synodalen Wegs, um die systemischen Ursachen für sexualisierte Gewalt gegenüber Minderjährigen und deren Vertuschung in der katholischen Kirche aufzubrechen. Offen, weil seine Form und Struktur nicht herkömmlichen, kirchenrechtlichen Formaten (Plenarkonzil, Synode) entsprechen; offen, weil auch Ausgang und Ergebnis des Synodalen Wegs nicht abzusehen sind; offen, weil die Zusage der Verbindlichkeit der Beschlüsse erst durch deren Umsetzung eingeholt werden muss. Offen ist aber auch jene geistliche Haltung, mit der viele am Synodalen Weg Beteiligte diesen Weg engagiert und interessiert mitgehen und -tragen. Offen sind vor allem die Chancen und Möglichkeiten, die diesem Prozess innewohnen, der auf Basis einer theologisch begründeten und ekklesiologisch als notwendig verstandenen Synodalität die Beteiligung aller Gläubigen an Beratungen und Entscheidungen grundlegt.

Der Synodale Weg braucht Kontext

Konkreter Impuls für den Synodalen Weg war die Veröffentlichung der sogennnten MHG-Studie im Jahr 2018 und die Erkenntnis, dass es nicht nur um individuelles Versagen geht, welches es aufzuarbeiten gilt. Die von der Deutschen Bischofskonferenz zur Untersuchung des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker in der katholischen Kirche in Auftrag gegebene Studie offenbarte auch ein systemisches Versagen der Kirche im Umgang mit und in der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. In den kirchlichen Machtstrukturen und der fehlenden Kontrolle kirchlicher Entscheidungsgewalt, der zölibatären, priesterlichen Lebensweise, der Stellung von Frauen in der Kirche und der nicht mehr verstandenen bzw. wenig Orientierung gebenden kirchlichen Sexuallehre wurden vier systemische Ursachen benannt, die sexuellen Missbrauch in der Kirche begünstigt haben. Von diesen Erkenntnissen geprägt, beschloss die Deutsche Bischofskonferenz auf ihrer Vollversammlung im März 2019 in Lingen, gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) einen verbindlichen und strukturierten Weg der Umkehr und Erneuerung zu gehen. Dieser Weg sollte auf Augenhöhe gegangen werden, in dem Synodalität und Partizipation als integrale und konstitutive Elemente für die Herbeiführung von Ergebnissen und Beschlüssen wirken. Mit dem Synodalen Weg sollten daher nicht alte Reformvorhaben wieder neu auf den Tisch gepackt werden – wenngleich er von diesen inhaltlich nicht zu trennen ist. Trotz der Erfahrung einer „Kirche im Angesicht des Missbrauchs“ sollte der Verkündigung des Evangeliums neuer Raum zur Entfaltung gegeben werden – angestoßen durch die Erkenntnis des mehrdimensionalen Versagens, aber auch getragen von der Gewissheit, dass die Kirche einer Erneuerung vom Kern ihres Wesens her bedarf. Das gemeinsame Beraten über die vier Themenfelder des Synodalen Wegs in der Perspektive des Evangeliums wurde entsprechend in der Satzung verankert: „Der Synodale Weg der katholischen Kirche in Deutschland dient der gemeinsamen Suche nach Schritten zur Stärkung des christlichen Zeugnisses.“

Das Volk Gottes in Deutschland auf dem Weg

Von Beginn an rief der Synodale Weg sowohl Befürworter als auch Kritiker auf den Plan. Während eine lautstarke Minderheit „geistlose Strukturdebatten“, einen „Weg in den Protestantismus“ oder schlicht eine „(Selbst-)Täuschung der Laien“ befürchten, sieht die deutliche Mehrheit den Synodalen Weg als „Weg der Umkehr und Erneuerung“, „partizipative Zukunftswerkstatt“ und „Ausdruck wahrhaft synodaler Beratungen auf Augenhöhe“. Zwar stehen hohen Erwartungen auch eine nicht zu unterschätzende Fallhöhe gegenüber, aber in der gegenwärtigen kritischen Situation der Kirche ist es angezeigt, nicht den status quo zu halten, sondern freimütige Antworten zu finden. In ihren Bemühungen wurde die Kirche in Deutschland auch von Papst Franziskus bestärkt, wie er im Juni 2019 in seinem ohne Zuarbeit der römischen Kurie verfassten Brief an das pilgernde Volk in Deutschland formulierte. Papst Franziskus teilte den Gläubigen seine Mitsorge um die Zukunft der Kirche in Deutschland mit, stellte den Prozess unter den Primat der Evangelisierung und ermutigte dazu, die begonnenen Schritte zu einer wahrhaften chiesa sinodale zu verfolgen und den Synodalen Weg als geistlichen Prozess zu gestalten. Bis heute ist der Brief jenes Kriterium, an dem sich die päpstliche Haltung zum Synodalen Weg ableiten lässt – offene Ermutigung.

Synodales Beraten und Entscheiden

Noch offen bleibt aktuell auch, wie einzelne Beschlüsse des Synodalen Wegs umgesetzt werden, welchen Gestaltungsspielraum die einzelnen Ortskirchen haben werden und welche Aspekte als Voten an den Apostolischen Stuhl als Impulse in die Weltkirche übermittelt werden. Aber ein wesentlicher Schritt zu mehr Beteiligung von Laien ist bereits durch den Synodalen Weg erreicht worden, der für eine gelingende Arbeit auf Augenhöhe herausgefordert war, bereits das umzusetzen, was er eigentlich erst als Ergebnis zum Ausdruck bringen sollte und wollte: Partizipation und Synodalität. Auf allen Ebenen des Synodalen Wegs bedurfte es daher einer strukturellen Einbindung von Nichtgeweihten, die mit gleichen Rechten und Kompetenzen in der Leitung und den Entscheidungsprozessen ausgestattet waren. Die Synodalversammlung als oberstes beschlussfassendes Gremium setzt sich beispielsweise aus den Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz, einer gleichen Anzahl an ZdK-Mitgliedern und weiteren Katholik:innen zusammen, die kirchliche Dienste und geistliche Berufe vertreten oder aus der Mitte der Kirche benannt sind. Sie alle besitzen gleiches, unabhängiges Stimmrecht und bilden zusammen die Diversität und Vielfalt kirchlichen Lebens ab. Alle Synodalen bringen ihre Qualifikationen und Erfahrungen mit gleicher Wertigkeit in Beratung und Entscheidung ein, sodass diese beiden Prozessphasen ohne zwischenzeitlichen Entscheidungsvorbehalt für geweihte Amtsträger ineinander übergehen. Sinnbildlich für die gemeinsam getragene Verantwortung steht auch die paritätische Besetzung in der Träger- und Leitungsstruktur in den Synodalforen sowie dem (Erweiterten) Synodalpräsidium.

Zwischenfazit und bleibende Herausforderungen

Die überwiegend positiven Rückmeldungen und Zwischenrufe aus Teilen der Weltkirche im Nachgang der dritten Synodalversammlung im Februar 2022 zeigen, dass der Synodale Weg auch international wahr- und ernstgenommen wird. Die Beschlüsse zu den theologischen Grundlagen des Synodalen Wegs im Orientierungstext. Auf dem Weg der Umkehr und der Erneuerung, zur Mitgestaltung der Kirche und Partizipation an kirchlicher Leitung durch Laien auf Basis von Taufe und Firmung im Grundtext zu Macht und Gewaltenteilung in der Kirche. Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag sowie die Ausführungen im Handlungstext Einbeziehung der Gläubigen in die Bestellung des Diözesanbischofs regen konkrete Ergebnisse und praktische Konsequenzen zur Veränderung von Kirche an.

An dieser Stelle bietet sich ein Zwischenfazit verbunden mit einem Ausblick auf die verbleibenden Herausforderungen an:

-      Die jüngsten Ereignisse im Bistum Limburg sowie die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie im Bistum Münster verdeutlichen auf beschämende Weise die Aktualität des Synodalen Wegs und die Notwendigkeit, die begonnenen Schritte zum Aufbrechen der systemischen Ursachen und zur Behebung der Missstände in der Kirche entschieden weiterzugehen.

-      Der Synodale Weg wird aufgrund der fehlenden kirchenrechtlichen Legitimierung so lange Fragen ausgesetzt sein, bis die von den deutschen Bischöfen formulierte Zusage eines verbindlichen Prozesses erfüllt ist und die Beschlüsse auf diözesaner oder nationaler Ebene umgesetzt oder als Voten in die Weltkirche und an den Apostolischen Stuhl kommuniziert werden – nicht nur als Ergebnis eines Beratungsprozesses, sondern mit episkopaler Befürwortung. Positiv stimmt bereits die Entscheidung des Paderborner Domkapitels, bei der anstehenden Bischofswahl die Gläubigen der Erzdiözese stärker einzubeziehen.

-      Der Synodale Weg hat schon heute zu einer Art Mentalitätswechsel geführt: Seit der ersten Synodalversammlung in Frankfurt ist ein neues kirchliches Miteinander spürbar, das vom respektvollen Zuhören und Befassen mit den Ansichten des anderen geprägt ist. Hinter diese neue Geisteshaltung, die in Beratung und Entscheidung Synodalität und Partizipation erfahrbar macht, kann keine Ortskirche mehr zurück. Wenn es gelingt, diese Kultur der gegenseitigen Offenheit auf allen kirchlichen Ebenen in den einzelnen Ortskirchen zu entfalten, dann könnte daraus eine neue Form der Repräsentanz erwachsen, die – ähnlich wie die Entscheidungsfindung im Synodalen Weg – zukünftig ohne klerikalen Vorbehalt auskommt.

-      Die größte Herausforderung wird voraussichtlich sein, wie von Claudia Lücking-Michel beschrieben, nach dem Ende des Synodalen Wegs nicht in alte Strukturen und Gewohnheiten zu verfallen, sondern die Ergebnisse des Synodalen Wegs umzusetzen und  Synodalität so auf Dauer zu stellen, dass Kirche nachhaltig synodal gestaltet wird – in jener Offenheit und Kreativität, die es braucht, um immer wieder gemeinsam auf Augenhöhe um die Zukunftsgestalt der Kirche zu ringen. In diesem Sinn ist die Umsetzung auch nicht nur Aufgabe der geweihten Amtsträger, sondern der ganzen Kirche in Deutschland. Es geht nicht um eine rein politische oder juridische Implementierung der Beschlüsse des Synodalen Wegs, sondern um ein Bekenntnis der katholischen Kirche in Deutschland: Wir haben verstanden und aus der Vergangenheit gelernt. Wir übernehmen gemeinsam Verantwortung für diese Kirche und gehen gemeinsam den Weg der Umkehr und Erneuerung.

In der Tat ist der Synodale Weg in vielerlei Hinsicht „ein Schritt ins Offene“. Die Kirche in Deutschland steht nun vor der Herausforderung, diesem Offenen mit einer Portion Mut, theologischem Scharfsinn, aber auch ortskirchlicher Demut eine eigene Kontur zu verleihen, Erreichtes zu verstetigen und einen Impuls für den Synodalen Prozess der Weltkirche zu setzen.

Michael Karger