Mehr, nicht weniger!

Ein Plädoyer für Menschenrechte aus der Perspektive der Christlichen Sozialethik

Können die Menschenrechte heute noch überzeugen?[1] Sind sie noch relevant? Skepsis begegnet mir häufig: Studierende in Vorlesungen zweifeln manchmal an Legitimität und Geltung der Menschenrechte, weil sich, wie sie es wahrnehmen, niemand daran halte. Und tatsächlich treten sie im politischen Alltag oft hinter anderen Interessen (etwa wirtschaftlichen) zurück. Einige Stimmen aus dem globalen Süden kritisieren Menschenrechte oder lehnen sie ab, weil sie – noch immer – mit einem hegemonialen Anspruch einhergehen und Kolonialismus fortschreiben würden. Die Situation Geflüchteter weltweit wirf die Frage auf (die Hannah Arendt schon stellte), was mit den Rechten derer ist, die von keinem Staat geachtet oder geschützt werden – wären ihre Rechtsansprüche nicht am drängendsten? Die katholische Kirche geriert sich einerseits als Anwältin der Menschenrechte und betont die religiösen Wurzeln dieser Idee (oder zumindest der Menschenwürde), fremdelt aber teilweise bis heute mit den Freiheitsrechten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie zeigt, dass Menschenrechte vielfältig unter Druck stehen.

Aber was folgt daraus?

Beginnen wir mit Grundsätzlichem: Wenn eine Norm nicht eingehalten wird, bedeutet das nicht, dass die Norm keine Gültigkeit hat! Das heißt: Aus der Tatsache, dass Menschenrechte nicht hinreichend umgesetzt werden, folgt noch nicht, dass sie unbegründet oder gar falsch sind. Eine Norm ist dann legitim, wenn gute Gründe für sie sprechen, wenn sie kohärent und verallgemeinerbar ist. Und eine Rechtsnorm ist gültig, wenn sie auf einem richtigen Verfahrensweg zustande gekommen ist. Beides gilt für die Menschenrechte, die einen moralischen und einen rechtlichen Charakter haben: Sie lassen sich gut begründen, und sie sind bindend für die Staaten, die die menschenrechtlichen Verträge unterzeichnet haben (auch wenn es freilich etwas komplizierter wäre auszuführen, was das genau bedeutet). Dass es diese Rechte gibt, ist eine große Errungenschaft. Sie wurden politisch erkämpft; die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist eine Antwort auf die Leidens- und Unrechtserfahrung von Holocaust und Zweitem Weltkrieg: Dass das nicht wieder geschehen soll, war die große Motivation, die zu dieser beeindruckenden Erklärung führte. Dahinter darf es kein Zurück geben.

Moralisch sind die Menschenrechte so bedeutsam, weil sie es ermöglichen, den Anspruch der Menschenwürde zu realisieren. Die Menschenwürde kommt jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zu. Sie muss nicht erst verdient werden und kann auch nicht verloren gehen. Aber sie kann sehr wohl verletzt werden und muss deshalb geschützt werden. Sie erschöpft sich nicht darin, dass man sie „hat“, sondern sie muss sich im menschlichen Handeln realisieren. Dazu tragen die Menschenrechte bei. Sie schützen und ermöglichen jenes Handeln, durch das Menschen sich entfalten, und wehren Eingriffe ab.

Sie sind zu verteidigen als ein normativer Anspruch, von dem her eine mangelhafte Praxis zu kritisieren ist, damit wir sagen können: So, wie es ist, ist es nicht richtig! Auch die christliche Sozialethik verteidigt sie und kritisiert eine Praxis, die gegen sie verstößt. Menschenrechte sind also zentrale Orientierungen auch für die Christliche Sozialethik.

Diese Positionierung ignoriert nicht, dass manche Kritik an den Menschenrechten durchaus berechtigt ist und teilweise auch auf ihre Begründung zielt, weil sich Anspruch und Praxis der Menschenrechte doch nicht vollständig trennen lassen. Die Kritik aus dem globalen Süden rührt auch an der Wahrnehmung der Praxis von Ländern des globalen Nordens (und der zugehörigen Unternehmen) als derart abweichend vom menschenrechtlichen Anspruch, der ja sowohl verkündet als auch von anderen eingefordert wird, dass die Menschenrechte selbst unglaubwürdig zu werden scheinen. Die guten Gründe überzeugen nicht mehr, wenn die Wirksamkeit gar nicht zu erkennen ist. Das sind ernstzunehmende Einwände. Sie können an dieser Stelle nicht diskutiert werden, aber zwei Aspekte seien hervorgehoben. Einerseits ist der Dialog mit kritischen Positionen zu suchen. Dabei ist zu überlegen, was der menschenrechtliche Anspruch, dass jeder und jedem ein Leben in Würde zukommt (was die wenigsten Kritiker*innen anzweifeln), konkret bedeutet und wie dieser Anspruch in verschiedenen Kontexten unterschiedlich ausbuchstabiert werden könnte. Das ist ein schwieriges, nicht spannungsfreies, aber notwendiges Unterfangen. Andererseits sind im Wissen, dass die Glaubwürdigkeit der Menschenrechte selbst auf dem Spiel steht, der Anspruch umso mehr zu verteidigen und die menschenrechtsverletzenden Praktiken zu kritisieren. Aufgabe der Christlichen Sozialethik ist es daher, immer wieder deutlich zu machen, wie eine menschenrechtlich geleitete Praxis aussieht – und wie nicht. Das gilt in der Gesellschaft ebenso wie in der Kirche. Es sei für beide Bereiche exemplarisch verdeutlicht.

Verglichen mit vielen anderen Staaten steht es um die Freiheitsrechte in der Bundesrepublik Deutschland recht gut – was nicht heißt, dass es nicht noch viel Verbesserungsbedarf gäbe, man denke an Veränderungen durch Digitalisierung oder Spannungsfelder, wie etwa Freiheit und Sicherheit. Aber insgesamt haben es die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (WSK) Menschenrechte noch schwerer, sie gelten manchen als Menschenrechte zweiter Klasse. Das sind sie aber nicht. Der WSK-Pakt ist ebenso bedeutsam wie der Zivilpakt. Gleichwohl ist der Verbindlichkeitsanspruch vorsichtiger formuliert. Denn es scheint weniger klar, wann die sozialen Rechte eigentlich erfüllt sind: Das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit, oder auch das Recht auf Gesundheit. Letzteres hat die Pandemie ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit gerufen. Denn ja, es gibt ein Menschenrecht auf Gesundheit. Und nein, das beinhaltet nicht einen Anspruch darauf, gesund zu sein. Vielmehr rückt es die sozialen und politischen Bedingungen und Voraussetzungen von Gesundheit in den Mittelpunkt.[2] Einerseits dürfen Menschen durch gesellschaftliche Verhältnisse nicht in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden; andererseits müssen die Voraussetzungen für einen Zugang zu einem möglichst hohen Standard der Gesundheitsversorgung geschaffen werden. Dazu gehören auch weitreichende soziale und wirtschaftliche Dimensionen, und es erstreckt sich auf Faktoren wie Trinkwasser, Ernährung, Wohnen etc. Die primäre Verantwortung dafür tragen die jeweiligen Regierungen. Allerdings erfordert der Schutz dieser Rechte Ressourcen, die in vielen Ländern fehlen. Deshalb nehmen die menschenrechtlichen Texte (insbesondere der General Comment No. 14 [3]) auch die Staatengemeinschaft in die Pflicht. Sie bezeichnen die Überwindung der großen weltweiten Ungleichheit hinsichtlich des Gesundheitsstatus der Menschen als gemeinsames Anliegen (Art. 38) und benennen Kernverpflichtungen. Alle Staaten, die den WSK-Pakt ratifiziert haben, verpflichten sich also, zur Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit beizutragen (Art. 39). Wenn wir auf die bisherige Bewältigung der Pandemie blicken (hinzu kommen viele andere Probleme der Gesundheitsversorgung im globalen Süden) stellen wir fest, dass zahlreiche Versprechen nicht eingehalten wurden, die Ungleichheit vielmehr vertieft wurde. Einmal mehr ist der – weltweite – Einsatz für ein soziales Menschenrecht nicht ausreichend.

Die kirchliche Sozialverkündigung hingegen setzte sich früh für die sozialen und wirtschaftlichen (heute auch kulturellen) Menschenrechte ein. Das ist etwa in der ersten Sozialenzyklika Rerum Novarum (1891) der Fall, die beherzt für Arbeiter eintritt, oder in der Enzyklika Pacem in Terris (1963), die als Menschenrechtserklärung der Kirche gilt. Sie stellt damit ein wichtiges Korrektiv zur Zurückhaltung der meisten Staaten dar. Gleichzeitig bleiben Defizite im Bekenntnis zu Freiheitsrechten. Zwar werden sie nicht mehr rundweg abgelehnt, wie das im 19. Jahrhundert der Fall war, aber es ist eine erhebliche Skepsis erkennbar – auch in der Enzyklika Fratelli Tutti.[4] Dabei ist Franziskus´ Kritik in Teilen berechtigt und notwendig. Er kritisiert nämlich Fehlformen eines Liberalismus, der Freiheit als beinahe grenzenlos und das Subjekt als ein von anderen isoliertes versteht, so dass Verantwortung und Beziehungshaftigkeit damit nicht vereinbar erscheinen. Und er kritisiert einen Wirtschaftsliberalismus, bei dem das Recht des Stärkeren leitend ist, und Freiheit als Freiheit von allen staatlichen Regulierungen verstanden wird. Diese Kritik ist berechtigt. Allerdings wäre es wichtig, die verschiedenen Freiheitsbegriffe, die in der Enzyklika vorkommen, zu differenzieren. Da das weitgehend fehlt, besteht eine Gefahr, und eine Chance wird vertan: Die Chance wäre, den Freiheitsbegriff positiv zu bestimmen und zu betonen, dass Freiheit eben nicht frei von Verantwortung ist (im Gegenteil!) und dass Freiheit und Beziehungshaftigkeit sich nicht ausschließen – die Tradition böte für beides viele Anknüpfungspunkte. Die Gefahr ist daher, dass mit der berechtigten Kritik an manchen Fehlformen Freiheit und Freiheitsrechte selbst in ihrer Bedeutung verkannt werden. Das ist allerdings problematisch: Dass der Mensch frei ist, ist eine Grundannahme, die auch in der Theologie tief verwurzelt ist. Diese Freiheit des Menschen, die damit verbundene Selbstbestimmung sowie die Rechte, die diese schützen und ermöglichen, sind zu verteidigen. Theologie und die theologischen Ethiken arbeiten daran, wie Freiheit heute angemessen zu verstehen ist, und sie verteidigen diese Freiheit auf vielfältige Weise. Vom kirchlichen Lehramt würde ich mir das stärker wünschen. Mehr noch: Manche der aktuellen kirchlichen Probleme gründen u.a. in einer fehlenden Achtung von Freiheit und Selbstbestimmung. So kann etwa der Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche erst dann verändert und die Taten verhindert werden, wenn die Freiheitsrechte ernstgenommen werden. Es geht um eklatante Verstöße gegen die Selbstbestimmung der betroffenen Personen, insbesondere der sexuellen Selbstbestimmung. „Missbrauch“ weist darauf hin, dass eine Person zum Gebrauch eines anderen wird – dabei darf doch die Person (das wissen wir spätestens seit Kant), niemals zum Objekt eines anderen werden. Sie ist vielmehr zu achten – in ihrer Selbstbestimmung als Ausdruck von Würde und Freiheit. Die Achtung der Selbstbestimmung und mit ihr verbunden der Freiheitsrechte ist also dringend geboten in der katholischen Kirche.

Die menschenrechtliche Praxis ist derzeit nicht zufriedenstellend. Aber das ist ein Auftrag, weiter daran zu arbeiten und nicht aufzugeben. Kritisch und konstruktiv – in Gesellschaft und Kirche, und ohne Freiheitsrechte und soziale Menschenrechte zu trennen. Denn zu einer Realisierung menschwürdigen Lebens braucht es beides: Freiheit und ein Minimum an Wohlergehen.

Michelle Becka

 

 

 


[1] Ausführlich in: Becka, Michelle, Menschenrechte, in: Heimbach-Steins, Marianne / Frühbauer, Johannes J. / Kruip, Gerhard (Hg.), Christliche Sozialethik. Grundlagen – Kontexte – Themen. Ein Lehr- und Studienbuch, Regensburg 2022, 187-202.

[2] Vgl. Krennerich, M., Das Menschenrecht auf Gesundheit. Grundzüge eines komplexen Rechts, in: Frewer, A./Bielefeldt, H. (Hg.), Das Menschenrecht auf Gesundheit, 57-92.

[3] Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR), General comment no. 14. The right to the highest attainable standard of health, E/C.12/2000/4.

[4] Vgl. zur Enzyklika das Themenheft: AmosInternational 1/2021.