Immanuel Kant: Gott muss nicht sein, soll aber

Dass die katholische Theologie während der letzten drei Jahrhunderte eine komplexe Geschichte hinter sich hat, lässt sich exemplarisch an ihrem Umgang mit dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) ablesen. Schon Moses Mendelssohn (1729-1786) hatte Kant angeblich den „Alles-Zermalmer“ der alten Metaphysik genannt. Katholiken durften ihn für längere Zeit gar nicht lesen: Schon 1827 wurde Kant auf den Index der durch das kirchliche Lehramt verbotenen Bücher gesetzt. Während des gesamten 19. Jahrhunderts galt er als ein tendenziell antiklerikaler und theologieferner Denker.

Das änderte sich gewaltig im 20. Jahrhundert und dann insbesondere im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965). Bedeutende Theologen wie Karl Rahner (1904-1984) und Hansjürgen Verweyen (1936-2023) entdeckten Kant neu für sich. Dass Kant sich von einer abstrakten Metaphysik abgewandt hatte, um den Menschen in den Mittelpunkt seines Interesses zu stellen, traf sich nun hervorragend mit dem Anliegen der Konzilsgeneration. Auch hier wollte man im Sinne einer „anthropologischen Wende“ den Menschen als Gottsuchenden ins Zentrum der Theologie stellen. Ein Ergebnis dieser Bemühungen war die so genannte Transzendentaltheologie – eine Theologie, die mit Kant die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis zu ergründen versucht und hiervon ausgehend danach fragt, was Grundlage und Ziel der menschlichen Existenz ist. Gott, so lautete die Antwort der Transzendentaltheologen. Kant selbst wäre da vermutlich etwas vorsichtiger gewesen.

Wer aber ist dieser durch die Theologie des 19. Jahrhunderts verdammte und im 20. Jahrhundert theologisch einflussreiche protestantische Philosoph? Berühmt sind drei Fragen, die sich nach Kant aus philosophischer Sicht jeder Mensch zu stellen hat:

  • Was kann ich wissen?
  • Was soll ich tun?
  • Was darf ich hoffen?

Sie münden in eine vierte Frage als Resultat dieser drei Fragen: Was ist der Mensch?

Auffällig ist, dass diese Fragen der Religion sehr nahe stehen: Kann ich nur Wissen über die Welt und ihre Struktur gewinnen, oder gibt es eine Form von Erkenntnis, die umfassender ist als solches Tatsachenwissen? Gibt es eine absolute Grundlage des moralischen Handelns? Darf ich auf etwas hoffen, das über meine eigene Existenz hinausgeht?

Dass Kant für lange Zeit in der katholischen Theologie nicht beliebt war, liegt vermutlich an zwei Dingen – allgemein an den Grundlagen seiner Erkenntnistheorie, konkreter an seiner Kritik der klassischen Gottesbeweise.

Kants Erkenntnislehre wird in der philosophischen Debatte oft mit dem Wort „kopernikanische Wende“ umschrieben. So wie Kopernikus nachgewiesen hatte, dass nicht die Erde, sondern die Sonne das Zentrum unseres Sonnensystems bildet, kam Kant zu der Einsicht, dass uns unsere Erkenntnis die Welt nicht so zeigt, wie sie ist, sondern nur so, wie sie uns als Menschen erscheint. Wir haben, so Kant, keinen Zugang zum „Ding an sich“, also zu den Gegenständen der Welt so, wie sie wirklich sind. „Bisher nahm man an“, so schreibt Kant im Vorwort der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft, „alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“. Diese Ansicht wurde natürlich als ein Affront gegenüber der traditionellen Auffassung der katholischen Theologie wahrgenommen, dass uns eine adäquate Erkenntnis der Welt und der Glaubenswahrheiten möglich ist.

Auch auf dem Feld der Gottesbeweise räumt Kant mit traditionellen Vorgaben auf. Der ontologische Gottesbeweis (Anselm von Canterbury) hatte betont, dass Gott als das höchst vollkommene Wesen notwendig existieren müsse, da die Nichtexistenz ja einen Mangel an Vollkommenheit bedeute. Dieses Argument wird von Kant mit der Feststellung kritisiert, dass Existenz kein reales Prädikat sei. Anders gesagt: Vorstellen kann ich mir vieles, auch ein vollkommenes Wesen, nur existieren muss es deshalb nicht zwingend. Auch der kosmologische Gottesbeweis (Aristoteles, Thomas von Aquin), der nach dem ersten Grund alles Seienden fragt, beruht nach Kant auf einem Fehlschluss: Nur weil ich weiß, dass in der Welt alles von etwas anderem bewirkt wurde, kann ich nicht daraus schließen, dass es einen ersten Grund aller Ursachen, einen „unbewegten Beweger“ gibt. Der teleologische Gottesbeweis schließlich, der aus der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur auf eine Ursache schließt, die die Welt zweckmäßig geordnet und gestaltet hat, wird von Kant zwar mit gewissen Vorbehalten versehen, aber noch am gnädigsten behandelt. Zweckmäßigkeit in der Natur zu sehen, ist legitim, die „Idee Gottes“ als Vorstellung eines Ziels des Naturgeschehens daher nicht in sich widersprüchlich.

Man kann Gott also nach Kant auf der Ebene der theoretischen Vernunft nicht beweisen – aber man kann ihn in der praktischen Vernunft, also auf der Ebene der moralischen Gesetzgebung als notwendig sehen. Was aber heißt das?

Kant konzipiert Freiheit als das Vermögen, etwas von selbst beginnen zu können. Der Mensch kann das, er steht mit seinem freien Willen insofern über der determinierten, also nicht durch Freiheit gekennzeichneten Natur. Und da der Mensch frei ist, kann, ja, muss er moralisch handeln. Dazu gehört, dass er die Freiheit anderer respektiert, er soll andere Menschen nie als „Mittel zum Zweck“ benutzen, sondern sie als „Zweck an sich“ ansehen. Andere nicht auszunutzen, ist ein Gebot der praktischen Vernunft. Da der Mensch frei ist, muss er außerdem nach einem „kategorischen Imperativ“ handeln, der für alle Menschen gilt. Kant fasst das in die bekannten Worte: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Nach Kant ist jeder Mensch „glückswürdig“, er hat das Recht auf ein geglücktes Dasein, für sich selbst und für andere. In seinen Worten: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein.“ Glück allerdings ist auf Hoffnung angewiesen. Dass ich und andere glücklich sind oder werden, ob in diesem oder einem (möglichen) künftigen Leben, kann nicht von mir selbst oder anderen garantiert werden. Hier, auf dieser Ebene, führt Kant Gott ein: Gott ist nicht nur Urheber der Kausalität der Natur (theoretische Vernunft), sondern auch der Kausalität aus Freiheit (praktische Vernunft), und verbindet daher beide Ordnungen miteinander.

Entscheidend ist: Gott ist für Kant notwendig (oder mit Bindestrich: not-wendig), er allein garantiert die „Glückswürdigkeit“ des moralisch guten Handelns. Nur: Gott ist und bleibt nicht beweisbar. Seine Existenz ist als Postulat zu verstehen. Gott ist das, was sein soll, damit unsere menschliche Existenz nicht sinnlos ist, auch wenn er sich einer Erschließung durch die Vernunft entzieht. Die Erkenntnis, dass wir über Gott nicht einfach verfügen können, um dann alles Weitere, das für unsere Theologie gegebenenfalls nützlich ist, aus diesem Gottesbegriff abzuleiten – auch sie ist ein Verdienst Kants.

Das Verhältnis der katholischen Theologie zum einst verfemten „Alleszermalmer“ und später als Referenz der „anthropologischen Wende“ wirkmächtigen Protestanten Kant kann uns auch heute noch zu denken geben. Denken wir an Kant, haben wir uns weiterhin zu fragen: Was kann ich wissen? (Dass Gott sich uns selbstverständlich offenbart, oder von uns erst individuell gefunden werden muss?) Was soll ich tun? (Das, was kirchlich geboten ist, oder das, was das moralische Gesetz in mir fordert?) Was darf ich hoffen? (Hoffentlich – damals wie heute – mehr, als die „theoretische Vernunft“ erschließen kann.)

Und was ist der Mensch? Theologinnen und Theologen werden – auch lange nach Kant – nicht zuletzt daran gemessen werden, ob sie diese Frage sinnvoll beantworten können.

 

Die Zitate folgen: Immanuel Kant, Sämtliche Werke (Hg. Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften), Berlin 1900ff. Auch online verfügbar.

Dr. Dr. Florian Baab ist Institutsleiter und Vertretungsprofessor für Katholische Theologie an der Universität Hamburg.